Hyakunin-isshu — N° 61
Inishie no nara no miyako no yaezakura

Ise no Taifu


Die achtfach gefüllten Kirschblüten
aus der früheren Hauptstadt Nara –

blüh’n sie nicht herrlich jetzt neunfach hier,
im kaiserlichen Palast?

inishie no
nara no miyako no
yaezakura

kyou kokonoe ni
nioinuru ka na


Die Verfasserin des Gedichtes, Ise no Taifu (10./11. Jh.), stammte aus der Familie, die dem berühmten Ise-jingû, dem wichtigsten Shintô-Schrein, vorstand. Auch ihr Großvater, Ônakatomi no Yoshinobu, ist mit einem Gedicht im Hyakunin-isshu vertreten.

Als junge Frau wurde Taifu in die neue Hauptstadt Heian geschickt, um dort als Hofdame zu dienen. Eines Tages traf eine besondere Gesandtschaft bei Hofe ein: Ein Mönch aus Nara hatte einen der berühmten Yae-Kirschbäume, die es damals nur in Nara gegeben haben soll, ausgraben lassen und ihn dem Hof in Heian geschenkt. Fujiwara no Michinaga, der als hoher Beamter für solche Dinge verantwortlich war, befahl der berühmten Murasaki no Shikibu, der Autorin des Genji monogatari, die – wie nun auch Taifu – eine Hofdame war, das Geschenk entgegenzunehmen und sich um den Baum zu kümmern. Shikibu jedoch erklärte, sie würde lieber Taifu damit betrauen. Michinaga war ziemlich ungehalten darüber, daß einer erst kürzlich eingeführten Hofdame solch eine wichtige Angelegenheit übertragen werden sollte; er stimmte jedoch unter der Voraussetzung zu, daß Taifu sich mit einem Gedicht für dieses Geschenk bedanke. Als sie es fertiggestellt hatte und vor der versammelten Hofgesellschaft vortrug, soll diese vor Begeisterung so aus dem Häuschen gewesen sein, daß sie den ganze Palast zum Wackeln brachte.

Die rechts abgebildete Spielkarte (oben der Text des Gedichtes für den Vorleser, darunter das Bild der Dichterin) wurde von dem Holzschnittmeister David Bull nach einer Vorlage aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angefertigt.

Hyakunin-isshu N° 15

Sprachliche Analyse des Gedichtes

Wort (Wortart) Entsprechung im modernen Japanisch

Erklärung


inishie (Nomen) inishie, mukashi alte Zeiten, früher
no (Partikel) no Die Partikel no dient – wie im modernen Japanisch – in der klassischen Sprache zur attributiven Zuordnung des vorangehenden zu dem folgenden Nomen. Diese Zuordnung ist stets semantisch indifferent, d. h., es wird durch no nur deutlich gemacht, daß das vorangehende Nomen das nachfolgende näher erläutert, aber welcher Art diese Erläuterung ist, muß aus dem Kontext erschlossen werden.
nara (Nomen) nara Nara, die alte Hauptstadt (710–794; vgl. den Kasten weiter unten)
no (Partikel) no (siehe oben)
miyako (Nomen) miyako Hauptstadt, Stadt der Residenz des Tennô
no (Partikel) no (siehe oben)
ya-e-zakura (Nomen) ya-e-zakura Kirschbaum mit »achtfach« (vielfach) gefüllten Blüten (siehe den Kasten weiter unten);
Die Bildung von Komposit-Nomina nach dem Schema Nomen + Nomen ist im bungo sehr häufig; im vorliegenden Fall sind drei Nomina aneinandergereiht: ya (acht), e (Vielfaches) und sakura (Kirsche). Dabei wird ein stimmloser Anlaut in aller Regel in seine stimmhafte Entsprechung umgeformt, z. B. wird sakura zu zakura.
Das Wort yaezakura stellt in diesem Satz das Subjekt dar; im bungo wird dieses Satzglied – im Unterschied zur modernen Sprache – in der Regel nicht durch eine Partikel markiert.
kyou (Nomen) kyou zwei Deutungsmöglichkeiten: I. »heute«; II. »Hauptstadt« (vgl. Kyô-to, Tô-kyô)
kokono-e (Nomen) kokono-e;
koko no he (kono atari)
drei Deutungsmöglichkeiten: I. »neunfach« (vgl. oben yaezakura), das 1. wieder die Kirschen bezeichnen oder 2. ein Synonym für »Palast des Tennô« sein kann*; II. »diese Gegend« (koko no [h]e = kono atari).
*) Die Vokabel stammt aus China, wo der Kaiserpalast neun Tore hatte.
ni (Partikel) ni Je nachdem, welche der Deutungsmöglichkeiten für kokonoe man wählt, formt das angeschlossene ni das vorausgehende Wort entweder zu einem Adverb um (I. neunfach [blühen]) oder macht es zu einer Ortsangabe (I.2. im Palast; II. in dieser Gegend).
nioi-nuru (4-Verb in Renyôkei + nu in Rentaikei) utsukushiku saite iru koto Im Bereich der Verben werden im klassischen Japanisch weitaus mehr Konjugationsklassen unterschieden als in der modernen Sprache. Die meisten dieser Klassen enthalten jedoch verhältnismäßig wenige Verben (wenn nicht gar nur ein einziges). Sehr viele Verben sind sog. Yon-dan-Verben (Abk.: 4-Verb; »vierstufige Verben«). In ihrer Satzschlußform (Shûshikei), also der Form, in der sie z. B. als Prädikat einen allgemeinen Präsens-Satz beschließen können, enden die Verben dieser Klasse auf ·u. Um sich mit anderen Verben verbinden oder auch um z. B. bestimmte Partikeln anschließen zu können, nehmen die Verben die Halbschlußform (Renyôkei) ein. Diese endet bei 4-Verben auf ·i.
Das vorliegende Verb »herrlich blühen« (Shûshikei: nio[f]·u) ist ein 4-Verb. Seine Renyôkei, lautet demnach nio[f]·i. Beim sich anschließenden nuru handelt es sich um eine Form eines weiteren Verbs (Shûshikei: n·u), das zur Klasse der sog. Na-hen-Verben (Abk.: n-Verb; »unregelmäßiges Verb der Na-Reihe«) gehört. Es wird an die Renyôkei von Verben angeschlossen, um ihnen den Aspekt der Abgeschlossenheit (Perfekt) oder der nachdrücklichen Behauptung zu geben. Den Ausgang ·uru, den es im vorliegenden Fall aufweist, zeigen die n-Verben in ihrer Anschlußform (Rentaikei). Diese Form ist nötig, um Partikeln (wie das folgende ka) anschließen zu können.
ka (Partikel) (ka) Partikel zur Kennzeichnung einer Frage;
Soll ka an Verben angeschlossen werden, müssen diese in die Anschlußform (Rentaikei) treten.
na (Partikel) (na), yo Partikel zur Formung eines Ausrufs;
Die (oft begegnende) Kombination ka + na transportiert ungefähr die Stimmung von »Es ist doch so, nicht wahr?«

Yaezakura – Kirschen aus Nara

Daß die Kirschbäume, insbesondere deren Blütezeit, in Japan eine besondere Beachtung erfahren, ist allgemein bekannt. Wenn die Kirschen blühen, ist der Frühling gekommen. Von Süden nach Norden zieht im Laufe weniger Wochen die »Blütewelle« durch das ganze Land. In den Zeitungen finden sich »Blütekalender«, und für ein feucht-fröhliches Picknick unter blühenden Kirschbäumen muß man sich rechtzeitig einen Platz sichern, denn dieses o-hanami, die »Blütenschau«, ist eine allseits beliebte Veranstaltung.

Die yaezakura (»achtfach gefüllte Kirschen«) genannten Bäume gehören zu den schönsten in ganz Japan. Ihre schweren, üppigen Blüten entfalten sich etwas später als die der anderen Kirschsorten. Ursprünglich soll es sie nur in Nara gegeben haben; heute jedoch blühen sie auch in anderen Teilen des Landes.

Einen besonderen Reiz gewinnt das Gedicht der Hofdame Ise no Taifu auch durch das Spiel mit den Möglichkeiten, die sich bieten, um kokonoe zu deuten. Sicher dachte man, wenn dieses Wort damals fiel, unwillkürlich an »Palast«, aber natürlich könnte es auch  tatsächlich einfach »neunfach« heißen – und damit die Aussage transportieren, daß es den Kirschen in Heian sogar noch besser geht als in Nara.

Yaezakura
In Anlehnung an dieses Gedicht gibt es nun sogar wirklich Kirschen, die man kokonoezakura (»neunfach gefüllte Kirschen«) nennt. Ganz besonders berühmte Exemplare davon stehen auf dem Gelände des Jôshôkôji in Kyôto. Kokonoezakura im Jôshôkôji

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Quellennachweis der Abbildungen:
(1. Das große Bild ganz oben) http://f17.aaacafe.ne.jp/~hmikann/hyakunin/061isetayuu.htm
(2. Der Holzschnitt) http://www.asahi-net.or.jp/~xs3d-bull/hyaku-nin-isshu/set2/print_2-8/j_display_print_2-8.html
(3. Yaezakura) http://www3.kcn.ne.jp/~watagen/hana/yaezakura-siro.JPG
(4. Kokonoezakura) http://www.plus-o.co.jp/sakura/s_01/pic/kinki/kyoto/kokonoezakura/cut_02.htm
Die deutsche Übertragung des Gedichtes stammt von mir.