Ohne Vorrede gleich los...

Was ist das Hyakunin-isshu?

Um das Jahr 1235 wurde der angesehene Gelehrte Fujiwara no Teika (auch Fujiwara no Sadaïe, 1162–1241) von dem reichen Utsunomiya Renjô gebeten, hundert herausragende Gedichte der japanischen Literatur auszuwählen, die dieser an die Schiebetüren seines neuen Hauses kalligraphieren lassen wollte.

Teika zog sich in sein Haus am Berg Ogura im Westen Kyôtos zurück und stellte aus der umfangreichen japanischsprachigen Gedichtliteratur des letzten halben Jahrtausends die hundert Gedichte zusammen, die er für die schönsten hielt. Seine Sammlung wurde bald berühmt, im Laufe der Zeit mehrfach überarbeitet und letztlich als Ogura hyakunin isshu (Je ein Gedicht von hundert Dichtern, gesammelt am Ogura) selbst zum Klassiker. Die überwiegende Zahl der Gedichte sind Liebesgedichte im engeren und im weiteren Sinne, es gibt aber auch Gedichte, in denen die Besonderheiten der Jahreszeiten oder Umgebung besungen werden oder die auf alte Erzählungen oder Bräuche anspielen.

Alle Gedichte dieser Sammlung sind waka (japanische Gedichte), und zwar sog. tanka (Kurzgedichte). Ein tanka besteht aus fünf Zeilen, die jeweils eine festgelegte Anzahl von Silben (besser: Moren) aufweisen, nämlich: 5-7-5-7-7. Die ersten drei Zeilen werden als Oberstollen (kami no ku), die letzten beiden als Unterstollen (shimo no ku) bezeichnet. Der Vortrag erfolgt in der Regel so, daß man jede Zeile durch Pausen (–) auf acht Moren ergänzt, also:

ooooo–––
ooooooo–
ooooo–––

ooooooo–
ooooooo–

Da in der japanischen Aussprache jede More dieselbe Zeit benötigt (»gleich lang« ist), ergibt sich auf diese Weise ein typischer Rhythmus.

Die Sprache des Hyakunin-isshu

Die Sprache, in der die Gedichte des Hyakunin-isshu abgefaßt sind, ist das klassische Japanisch (bungo). Texte, die in dieser Sprache geschrieben wurden, nennt man klassisch-japanische Texte (kobun). Das klassische Japanisch ist genaugenommen die japanische Sprache des zehnten und frühen elften Jahrhunderts, wie sie am Kaiserhof in der Hauptstadt Heian (heute: Kyôto) geschrieben wurde.

Natürlich unterscheidet sich diese Sprache deutlich vom heutigen Umgangs-Japanisch. Da sie aber – vor allem wegen der ihr zugeschriebenen Eleganz – bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als Literatursprache weit verbreitet war, muß sie jeder, der ältere Texte im Original lesen möchte, erlernen. »Kobun« ist an den Schulen Japans ein Pflichtfach, und so lernen alle Japaner diese Sprache (auch wenn es vielen von ihnen nicht besonders leichtfällt und sie sie nach der Schule wieder vergessen).

Uta-garuta – das Spiel zum Hyakunin-isshu

Das Hyakunin-isshu verdankt sicher einen großen Teil seiner Beliebtheit der Tatsache, daß es auch die Grundlage für ein Kartenspiel lieferte, das schon seit Jahrhunderten gern gespielt wird. Insbesondere ist dieses Spiel auch Bestandteil traditioneller Neujahrsbeschäftigungen.

Für dieses Kartenspiel, das uta-garuta ("Lieder-Karten") genannt wird, benötigt man zwei Sets von je hundert Karten. Die Karten des einen Sets sind jeweils mit einem der hundert Gedichte des Hyakunin-isshu bedruckt. Auf den Karten des anderen Sets befinden sich nur die Unterstollen je eines dieser Gedichte.

Man benötigt mindestens drei Personen, um das Spiel spielen zu können. Je nachdem, nach welchen Regeln man spielt, können es auch mehr sein. Einer der Teilnehmer spielt nicht direkt mit, sondern fungiert als Spielleiter. Die übrigen bilden nun entweder zwei gleichstarke Parteien, die gegeneinander antreten (Variante 1), oder kämpfen jeder gegen jeden (Variante 2).

In beiden Varianten erhält der Spielleiter die hundert Karten des ersten Sets, während die des zweiten Sets auf dem Boden ausgebreitet werden. In Variante 1 sitzen sich die Spieler jeder Partei gegenüber und erhalten jeweils 50 Karten, die sie in Reihen vor sich ausbreiten. In Variante 2 werden alle hundert Karten des zweiten Sets bunt auf dem Boden verstreut, und die Spieler setzen sich im Kreis um diese Karten herum. Der Spielleiter mischt die Karten seines Sets gut durch und formt sie zu einem Stapel, den er neben sich hinlegt, ohne daß ihn die anderen sehen können.

Nach diesen Vorbereitungen beginnt das eigentliche Spiel. Der Spielleiter zieht eine Karte von seinem Stapel und liest laut und deutlich den Oberstollen des entsprechenden Gedichtes vor. Aufgabe der Spieler ist es nun, unter den auf dem Boden liegenden Karten möglichst schnell diejenige zu finden, auf welcher der zugehörige Unterstollen abgedruckt ist.

In Variante 2 gewinnt einfach derjenige den Zug, der die Karte zuerst finden und sich greifen kann. So geht es immer weiter, bis alle hundert Karten gezogen sind. Gewonnen hat der Spieler, der sich die meisten Karten schnappen konnte. 

In Variante 1 ist das Spielziel jedoch etwas anders: Hier kommt es darauf an, sich als erster der 50 Karten, die vor den Spielern der eigenen Partei liegen, zu entledigen. Wenn die zu dem vorgelesenen Gedicht passende Unterstollen-Karte unter den eigenen 50 Karten ist, so nimmt man sie einfach aus dem Spielfeld. Liegt die zugehörige Karte jedoch unter den 50 Karten der Gegenpartei und findet man sie schneller als diese, so wird sie zwar auch entfernt, aber man übergibt man dem Gegner »zur Strafe«, daß er sie nicht selbst gefunden hat, eine Karte aus dem eigenen Spielfeld, die dieser in sein Spielfeld legen muß.

Natürlich ist es Voraussetzung für dieses Spiel, daß man die hundert Gedichte möglichst gut kennt. Weil der Sieg ja sehr stark davon abhängt, wie schnell man weiß, welcher Unterstollen zum vorgelesenen Oberstollen gehört, sollte man sich gut vorbereiten und viel üben. Es gibt in Japan eigene Lehrbücher, die nicht nur die hundert Gedichte vorstellen und erklären, sondern auch viele Tips und Strategien enthalten, wie man zum schnellsten Spieler werden kann. Auch im Internet gibt es Seiten, auf denen man das Zuordnen von Ober- und Unterstollen interaktiv trainieren kann. Hyakunin-isshu-Clubs sind z. B. an Schulen und Universitäten sehr beliebt. Hier trifft man sich, um gemeinsam zu spielen, Strategien zu erlernen, zu trainieren und Turniere auszutragen.

Ein Hyakunin-isshu-SpielsetBeim Hyakunin-isshu-Kartenspiel

Auf den Abbildungen sieht man zum einen die für das Spiel benötigten Karten (die bunten mit den bildlichen Darstellungen der Dichter sind die Vorlesekarten, die schlichten sind in Hiragana-Zeichen mit den Unterstollen beschriftet), zum anderen einen Schnappschuß während eines Spieles (nach Variante 2). Ganz links – kaum noch im Bild – sitzt die Spielleiterin, die den Oberstollen eines Gedichtes vorliest, während die Spieler konzentriert nach der richtigen Unterstollen-Karte Ausschau halten.

Und hier kommen sie...

... natürlich nicht alle hundert Gedichte aus dem Hyakunin-isshu, aber so nach und nach gedenke ich hier das eine oder andere davon kurz vorzustellen. So ein wenig mit Hintergrund, sprachlichen Informationen, kleinen Illustrationen usw. usf.

Da die Sprache der Gedichte – wie gesagt – klassisches Japanisch ist, will ich jeweils auch dazu einige Bemerkungen machen. Ein kompletter Kobun-Kurs kann das selbstverständlich nicht werden, obwohl es das (auch in deutscher Sprache!) durchaus gibt, namentlich in zwei Fassungen (die sich beide an Leute wenden, die bereits des modernen Japanisch wenigstens mittelprächtig mächtig sind):

  1. Rickmeyer, Jens: Einführung in das klassische Japanisch anhand der Gedichtanthologie Hyakunin isshu. Hamburg: Buske, ²1991. [1. Aufl. 1985].
  2. Arnold-Kanamori, Horst: Klassisches Japanisch I. Ogura hyakunin isshu - Die Sammlung 'Einhundert Gedichte'. Hamburg: Kovac, 2000. (Ulmer Sprachstudien, 4).

Allerdings weisen beide Bücher ihre Tücken auf. Rickmeyer verwendet (auch in anderen seiner Veröffentlichungen) eine eigentümliche Klassifikation und Terminologie für sprachliche Erscheinungen, die – hat man sich an sie gewöhnt – zwar durchaus einleuchtend und vor allem praktikabel ist, sich aber mitunter deutlich von der traditionellen Art unterscheidet, so daß man sich auf jeden Fall erst einmal in seine Begriffswelt einarbeiten muß und auch Gefahr läuft, »bei ihm« gelernte Dinge in anderen Darstellungen, grammatischen Handbüchern usw. nicht  (oder nur unter Schwierigkeiten) ebenfalls auffinden zu können. Die Vermittlung der Besonderheiten der klassischen Sprache erfolgt in einzelnen Lektionen, in denen jeweils einige der hundert Gedichte behandelt werden. Diese Lektionen sind klar strukturiert und führen nach und nach gründlich in alle auftauchenden Aspekte ein.

Arnold-Kanamoris Werk ist eher ein Lese- als ein Lehrbuch. Die Gedichte werden der Reihe nach auf je einer Doppelseite besprochen. Neben der Wiedergabe der Gedichte im Original, in Umschrift, in modernem Japanisch und in deutscher Übertragung findet sich jeweils noch eine Kommentarliste, der Wortbedeutungen und (ansatzweise) grammatische Erläuterungen entnommen werden können. Während das Erklärungssystem Rickmeyers gewöhnungsbedürftig ist, aber letztlich doch einen zusammenhängenden Kursus ergibt, fehlt bei Arnold-Kanamori jede systematische Unterweisung. Sein vermutlich frisch wirken sollender Stil erscheint mir persönlich doch als zu ruppig. Wieso ein zeitgenössischer Japanologe offenbar glaubt, sich in einem Lesebuch über das, was er für Interpretationsschwächen lange verblichener Übersetzer hält, in mehr als drastischer Weise lächerlich machen zu müssen, entzieht sich meiner Vorstellung.

Mein (!) Fazit: Rickmeyer eignet sich, nach der nötigen Einarbeitungsphase, um Kobun kennenzulernen, Arnold-Kanamori ist als »zweite Meinung« oder zum schnellen Nachschlagen verwendbar, weil – anders als Rickmeyer – von 1 nach 100 geordnet.

DIE GEDICHTE

FRÜHLING | N°15, N°61 |
LIEBE | N°77 |

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