Sprache Latein

Wiedergabe des von Renate Freyeisen verfaßten Artikels "Sprache Latein" (S. 416 ff.) in: Pleticha, Heinrich et Otto Schönberger: Die Römer. Ein enzyklopädisches Sachbuch zur frühen Geschichte Europas. Bindlach: Gondrom, 1992.


EinführungForm und Funktion der Sprache, SatzbauSprachgeschichte, Zeit der Klassik bis zum Untergang Roms, Vom Spätlatein zum Mittellatein, Latein in der NeuzeitBedeutung des Lateins für wissenschaftliche FachgebieteDie Aufspaltung der romanischen Sprachen, Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Rumänisch, Griechenland, RätoromanischLateinischer Einfluß auf die angelsächsischen und germanischen Sprachen, Englisch, DeutschWerbelatein und ähnliches


Die lateinische Sprache, wie sie heute noch an Gymnasien in aller Welt gelehrt wird, ist eigentlich eine ›tote‹ Sprache, d. h. eine Sprache, die nicht mehr von einem Volk als Kommunikationsmittel gebraucht wird (eine Ausnahme: als Kirchensprache der römisch-katholischen Kirche). In ihrer über 2000 Jahre hinweg konservierten Gestalt entspricht sie in etwa der gehobenen Sprache der römischen Oberschicht um die Zeitenwende und in der frühen Kaiserzeit bzw. dem literarischen Selbstzeugnis der römischen Elite bis zum Verfall des Römischen Reiches und deren geistigen Nachfolgern.

Das Lateinische gehört zur Gruppe der sogenannten indoeuropäischen Sprachen, von denen man auf Grund ähnlicher Wortfamilien und Strukturmerkmale annimmt, daß sie einmal aus einer einzigen Sprache hervorgegangen sind. (Zu diesen Sprachen gehört z. B. auch das Deutsche; vgl. etwa lat. mater – dt. Mutter; lat. est – dt. ist; lat. sunt – dt. sind)

Form und Funktion der Sprache:

Bemerkenswert als äußere Merkmale der lateinischen Sprache sind ihr Wohlklang (viele volle Vokale und Vokalverbindungen, gleichmäßiger Rhythmus) sowie die sehr große Übereinstimmung zwischen Schriftbild und Aussprache (vgl. Caesar – die Aussprache "Zäsar" entspricht wohl nicht der ursprünglichen Lautung ›Káesar‹ dt. Kaiser). Durch diese Übereinstimmung unterscheidet sich das Lateinische vom Französischen oder Englischen, bei denen Aussprache und Schriftbild recht verschieden sind.

Ein Hauptmerkmal der lateinischen Sprache besteht auch darin, daß sie sehr klar strukturiert und logisch durchformt ist bis in die kleinsten Formbestandteile hinein. Dies ist ersichtlich z. B. bei den sogenannten Suffixen, kennzeichnenden Erweiterungen der Wortwurzel, die jeweils an den Wortstamm angehängt werden und bei den Substantiven 5 Gruppen von Hauptwörtern sowie bei den Verben 4 Gruppen prägen; außerdem vermögen solche Suffixe auch bestimmte Eigenschaften bei Substantiven bzw. Handlungsarten bei Verben auszudrücken. An die Suffixe treten noch die Endungen, die Fall, Zahl bzw. Zeitstufe und Person festlegen. (Ein Beispiel aus der ersten Gruppe der Verben mit a-Suffix: ama-re = lieben: am-o = ich liebe, am-a-s = du liebst, am-a-t = er, sie, es liebt, am-a-mus = wir lieben, am-a-tis = ihr liebt, am-a-nt = sie lieben; am-a-ba-m = ich liebte, am-a-ba-s = du liebtest usw.) Im Gegensatz dazu stehen viele moderne Sprachen, bei denen durch die lange Dauer des alltäglichen Sprachgebrauchs sich z. B. viele volle Endungen bei den Substantiven abgeschliffen haben und wir nur noch durch sprachliche Übung und den Sinnzusammenhang des umgebenden Satzes erfahren, was genau gemeint ist: Vgl. z. B. die lateinisch eindeutig festgelegte Form fenestra (1. Fall, Einzahl, weiblich) mit der deutsch mehrdeutigen Form "Fenster" (möglich sind alle Fälle der Einzahl und Mehrzahl außer 2. Fall Einzahl und 3. Fall Mehrzahl; das Geschlecht des Wortes bleibt unbestimmt und muß erst durch das ergänzende Fürwort festgelegt werden). Natürlich führt dieser Formenreichtum der lateinischen Sprache bei den mit Latein ›geplagten‹ Schülern zu einem Mehraufwand an Lern- und Denkleistung, der – zwar im Augenblick recht beschwerlich – im Hinblick auf Verständnis logischer Strukturen und Aufbau einer Sprache sehr nützlich ist.

Satzbau. Im Lateinischen sind die Funktionen und Abhängigkeiten der einzelnen Satzbestandteile klar festgelegt. Grundelemente eines lateinischen Satzes sind die den Satz steuernde Satzaussage (Prädikat) und der Satzgegenstand (Subjekt), zu denen noch als Ergänzungen Attribute (zu den Nomina) und Objekte (zu den Verben) oder auch Nebensätze treten. Zwar ist dies bei den modernen westeuropäischen Sprachen ähnlich, doch sind hier die Bezüge der Satzglieder untereinander nicht mehr so klar erkennbar, weil die "informierenden" Endungen sich abgeschliffen haben und weil durch den täglichen Sprachgebrauch die bewußte Erkenntnis solcher Bezüge weitgehend fehlt.

Im Lateinischen aber muß man sich auch wegen der relativ freien Stellung des Verbums auf die Bezüge der einzelnen Satzglieder untereinander besinnen, um etwa eine lange Satzperiode zu verstehen. (Im Deutschen z. B. ist die Position des Verbums im Satz festgelegt!) Ein Beispiel für die Möglichkeit des ›freien‹ Satzbaus im Lateinischen bietet folgender einfache Satz: "flos in horto floret" (= "die Blume blüht im Garten" oder = "im Garten blüht die Blume"), der im Lateinischen auch lauten kann: "in horto floret flos", "in horto flos floret", "floret flos in horto", "flos floret in horto", "floret in horto flos" (dabei bleibt der Sinn gleich).

Trotz der relativ freien Wortstellung im lateinischen Satz bedeutet dies nicht, daß der Römer seine Worte willkürlich gesetzt hat; jede Postition im Satz hat ihren eigenen stilistischen Stellenwert – so galten etwa die erste und die letzte Stelle im Satz als besonders betont.

Auch die vielgeschmähten Schachtelsätze (ineinander verschachtelte Gefüge von untereinander abhängigen Nebensätzen im Hauptsatz) – wo sie im Deutschen auftreten, sind sie oft vom lateinischen Stil her beeinflußt – bedeuten eine bewußte logische Durchformung des Satz- und Sinnganzen. Wegbereiter eines solchen Stils, der besonders für philosophische Gedankengänge geeignet ist, war der Sprachschöpfer Cicero. Weiterhin ist das Lateinische – etwa im Gegensatz zum Deutschen – viel mehr von Formen des Zeitworts (Verbums) geprägt. Dies bedeutet, daß auch das Zeitverhältnis, wann die einzelnen Dinge geschehen sind, sehr genau festgehalten wird; durch diesen Verbalstil kommt mehr Dynamik, Bewegung in die Aussage.

Auch soziologische Gegebenheiten der Römer werden in der lateinischen Sprache sichtbar. Durch die vom Mann bestimmte römische Gesellschaft ist es erklärbar, daß es im Lateinischen – im Gegensatz zum Deutschen – kein eigenes Wort für Mädchen gibt: vgl. puer = der Junge mit puella = Mädchen, was sich aus puer-la herleitet und eigentlich "Jüngin" bedeutet (ähnlich steht es mit filius = Sohn und filia = Tochter – eigentlich "Söhnin").

Eine Sprache drückt sich auch in ihrer Schrift aus. Die lateinische Großbuchstabenschrift (Capitalis) – etwa seit 600 v. Chr. bekannt – hat sich mit leichter Veränderung des Schriftbildes weltweit bis heute durchgesetzt; die kleinen Buchstaben, im wesentlichen nur Vereinfachungen der großen, kombiniert mit den Großbuchstaben – unsere heutige Druckschrift – haben sich wegen der leichten Handhabung und Anpassungsmöglichkeit an alle Sprachen als Weltverkehrsschrift bewährt und sind noch im Vormarsch.

Sprachgeschichte:

Die eigentliche Geschichte der lateinischen Sprache beginnt damit, daß sich die Sprache von Stadtrom und Latium (ablesbar etwa an einer Inschrift um 600 v. Chr. "Manios med fefhaked Numasioi" = klassisches Latein "Manius me fecit Numerio" = dt. "Manius hat mich gemacht für Numerius") gegenüber den Dialekten der Umgebung, sowie gegenüber Etruskisch und Griechisch durchsetzt. Die Gründe dafür sind wohl politischer und geographischer Art: die gute Mittelpunktlage an der für die Seefahrt günstigen Tibermündung, Siege über die Sabiner, Alba; schwindende Macht der Etrusker, Sieg über die Samniten, Sieg über Pyrrhus und die griechischen Kolonien in Unteritalien (3. Jahrhundert v. Chr.); Eroberung von ganz Italien, Sizilien, Korsika und Sardinien; nach dem Sieg über Karthago (197 v. Chr.) Besetzung Spaniens und der afrikanischen Mittelmeerküste; Unterwerfung Griechenlands.

Zeit der Klassik bis zum Untergang Roms. Auf die Eroberung folgte eine langsame Ausbreitung der römischen Sprache; angeregt von den kulturellen Impulsen des unterworfenen Griechenlands begann die Entwicklung der römischen Literatur. Während seiner weiteren Verbreitung entlehnte das Lateinische auch manches aus dem Wortschatz der eroberten Völker (so etwa etruskisch persona = Maske, Person). Unter dem Einfluß der klassischen Autoren Cicero und Caesar bekam die klassische lateinische Prosa ihr Aussehen und wurde als Hoch- und Schriftsprache über Jahrhunderte maßgebend.

Um die Zeitenwende wurde in ganz Italien (außer einigen süditalischen Gebieten) Latein gesprochen. Soldaten, römische Siedler und Kaufleute sowie Gastwirte (caupones) brachten Latein in die außeritalischen Provinzen (Westeuropa, Britannien bis zur Grenze Schottlands, Germanien, Österreich, Jugoslawien, Rumänien, Nordafrika, um nur die wichtigsten zu nennen). Dabei drang das Lateinische über das von den Römern angelegte Straßennetz ins Innere der Provinzen ein. Nur die griechischsprechende Welt in Griechenland und an der Westküste der Türkei widerstand als höherstehende, traditionsbewußte Kultur dem Vordringen der lateinischen Sprache.

Im übrigen riesigen Römischen Reich fungierte Latein zunehmend als einigendes Band der zahllosen Völker des römischen Imperiums; es war die Sprache des Rechts, der Verwaltung, der Wissenschaften, Literatur und vor allem der Schule. Latein überlebte am Ende des 4. Jahrhunderts auch die Spaltung des Römischen Kaiserreichs in Westrom (Rom) = lateinisch und Ostrom (Byzanz) = griechisch, den politischen Zusammenbruch des Weströmischen Reiches in der Völkerwanderungszeit und den Untergang Roms als Hauptstadt und Zentrum durch die Eroberung Alarichs (476).

Zu dieser Zeit wurde die römische Sprache in den nördlichen Grenzgebieten des Reiches (Britannien, Belgien, Germanien, Schweiz, Österreich, nördliche Balkanländer) weitgehend von den Volkssprachen wieder verdrängt; dabei wurden allerdings manchmal einzelne lateinische Elemente als Fremdwörter, Fachbegriffe usw. übernommen. Im Innern des alten römischen Reiches jedoch blieb Latein die Verständigungssprache und wandelte im Laufe der Jahrhunderte nur ihr Aussehen.

Vom Spätlatein zum Mittellatein. Durch den Untergang des Weströmischen Reiches und den Verfall der lateinischen Sprache, bedingt auch durch die Ausbreitung in den verschiedensten Völkern, hörte die lateinische Sprache etwa um 600 n. Chr. als gesprochene Sprache auf zu existieren. Sie wurde zur Schriftsprache und lebte weiter in der lateinischen Literatur.

Ambrosius (*340, †397) schuf durch seine "Hymnen" die Grundlage für die geistliche und weltliche Lyrik und die Einbeziehung des Lateins in die Liturgie der Kirche. Mit dem Untergang der lateinischen Sprache als gesprochene Sprache aber fällt gleichzeitig noch ein literarischer Höhepunkt zusammen: das Werk des Boethius "De consolatione philosophiae" (523). Die lateinische Sprache existierte weiter: maßgebend dafür war die römisch-katholische Kirche, die Latein und das in ihr vermittelte lateinisch-antike Geistesgut übernahm. Die lateinische Sprache wurde nach der Ausbreitung des Christentums verbindendes Glied der christianisierten Völker. Mönche vervielfältigten etwa ein Jahrtausend lang durch fleißiges Abschreiben die römischen Autoren, da sie vom Wert des römischen Erbes überzeugt waren.

Latein existierte fortan in zwei Schichten: einmal als Vulgärlatein, d. h. vereinfachtes, umgangssprachlich-volkstümliches Latein, zum zweiten als spätlateinische Schriftsprache, die sich an den antiken Autoren orientierte.

Ein Zusammenhang zwischen Schriftsprache und Vulgärlatein war bis zum 9. Jahrhundert noch erkennbar, auch wenn sich beide immer weiter voneinander entfernten.

Seit dem 9. Jahrhundert erfolgte eine weitergehende Differenzierung des Vulgärlateins (parallel mit einer Aufspaltung in Einzelreiche) in die einzelnen romanischen Sprachen bzw. Dialekte. Die spätlateinische Schriftsprache (nicht gesprochen!) lebt als geistiges Band der abendländischen Welt bis heute weiter im westlichen Christentum (Latein ist offizielle Kirchensprache geworden), vor allem aber auch gefördert durch die Verwendung in Schule und Universität.

In der "Karolingischen Reform" durch Karl den Großen und seine Gelehrten (8., 9. Jahrhundert) wurde das Spätlatein weitgehend gereinigt von vulgärlateinischen Elementen und Auswüchsen und zu einer festgelegten Hochsprache vereinheitlicht, orientiert an antiken Normen.

In der letzten Epoche des Mittelalters (11. bis 14. Jahrhundert) wurde es durch die Bestrebungen der Scholastiker (bedeutendster Vertreter: Thomas von Aquin), die Sprache für präzise Darlegung logischer und philosophischer Gedanken verwendbar zu machen, noch einmal vereinheitlicht und gereinigt.

Die im 12./13. Jahrhundert aufblühenden nationalsprachlichen Literaturen drängten die lateinische Literatur nicht zurück: beide bestanden nebeneinander, ja, die lateinische Literatur erreichte einen Höhepunkt (Carmina Burana, 13. Jahrhundert). Latein war im Mittelalter geistiges Band der gebildeten Welt, in der es nicht nur geschrieben, sondern auch gesprochen wurde. Die italienischen Humanisten wie Petrarca blickten verächtlich auf das Mittellatein ihrer Zeit, säuberten es zwar von Auswüchsen, preßten es aber auch in eine recht starre Form, orientiert am Vorbild Cicero, und beendeten damit die lebendige Epoche des Mittellateins. Paradoxerweise erhielt Latein jetzt wieder eine "klassische" Form (Erasmus von Rotterdam), und in dieser Sprache wurden die ersten Entdeckungen der Moderne veröffentlicht (Werke Descartes', Spinozas, Newtons).

Latein in der Neuzeit. Noch bis ins 19., ja 20. Jahrhundert hinein mußten die Doktoranden an den Universitäten ihre Thesen lateinisch vorbringen. Die lateinische Sprachtradition hat sich an den Universitäten (und in der katholischen Kirche) am längsten gehalten; davon zeugen die heute noch üblichen Bezeichnungen "Rektor", "Auditorium Maximum", "Mensa" u. a. In den höheren Schulen wird Latein heute noch weltweit gelehrt. Auch als Diplomatensprache lebte Latein bis zu seiner Ablösung durch das Französische unter Ludwig XIV. weiter.

Bedeutung des Lateins für wissenschaftliche Fachgebiete:

Latein war im Mittelalter die Sprache der Wissenschaften; es blieb auch in der Neuzeit eine Art Fachsprache für die meisten Wissenschaften. Sehr viele wissenschaftliche Werke waren bis ins 19. Jahrhundert vollkommen lateinisch abgefaßt; viele wissenschaftliche Grundbegriffe sind und werden noch wegen der internationalen Verständlichkeit aus dem Lateinischen gebildet. In der Medizin sind die anatomischen Bezeichnungen lateinisch (z. B. musculus = Muskel, eigentlich "Mäuschen"), ebenso Krankheitsbezeichnungen. Arzneizusammensetzungen werden lateinisch angegeben. In der Botanik und Zoologie sind die Namen lateinisch und damit international verständlich (Wegbereiter: Carl von Linnée [korrekt: Carl von Linné – Thomas J. Golnik]). Vor allem die Rechtssprechung ist von der lateinischen Sprache her bestimmt (in dubio pro reo; Advokat, Kaution usw.).

Auch bei modernen technisch-wissenschaftlichen Expeditionen wurden dem Latein Bezeichnungen entlehnt (z. B. in der Weltraumforschung "Gemini", "Explorer").

Von größter Bedeutung aber ist Latein als Kirchensprache der römisch-katholischen Kirche. Wegbereiter war Tertullian (*160 v. Chr.). Die lateinische Liturgie (ab 4. Jahrhundert) ist bis heute als sakrale Sprache in gleicher Form erhalten. Latein verbindet alle Glieder der Kirche mit Rom, die als lateinische Kirche das Erbe des Imperium Romanum angetreten hat. Der Papst kann sich lateinisch mit Geistlichen in aller Welt verständigen, die Glaubensverkündigung, das Lehramt einheitlich ausüben, kirchliches Recht niederlegen. Stilistisch ist das Latein der Kirche geprägt von der Sprache der spätrömischen Staatskanzlei, dem Scholastiker- und Humanistenlatein. (Zum Beispiel recht gut zu verfolgen an den lateinischen päpstlichen Erlassen, den Enzykliken).

Die Aufspaltung in die romanischen Sprachen:

Latein hat wie keine andere Sprache die europäischen Sprachen mitgestaltet. Ausgangspunkt der Entwicklung war das Vulgärlatein, die Umgangssprache der kleinen Leute, die mehr mit Händlern, Siedlern u. ä. in Berührung kamen als mit hochsprachlichen Äußerungen der Obrigkeit, weil sie als weitgehend Schriftunkundige auch kulturell den Römern unterlegen waren.

Das Aussehen der lateinischen Umgangssprache ist schwer zu rekonstruieren (Spuren etwa bei Plautus), einige Grundzüge aber sind zu konstatieren: Der Formenreichtum wird reduziert, "ille" wird bestimmter Artikel (frz. elle, il; ital., span. el, lo usw.), die Konstruktion der Sätze vereinfacht sich, "h" in Anlaut und Inlaut verstummt (vgl. das Frz.!), auslautendes "m" verschwindet oft. Neue Wörter verdrängen alte, neue Verbal-Endungen entstehen (-iare und -izare > frz. -ier und -izer), die Flexion der Verben wird vereinfacht.

Das Vulgärlatein aber wurde von den zu verschiedenen Zeiten unterworfenen Völkern zu jeweils verschiedenen Zeiten und damit Sprachentwicklungsstufen übernommen. Dazu kam, daß Latein auch in verschiedener Weise übermittelt wurde (einmal z. B. durch Legionäre, ein andermal über Schulen und Obrigkeit). Außerdem wurde es entsprechend den eigenen Sprachgewohnheiten abgewandelt.

Wann genau die Differenzierung in die einzelnen romanischen Dialekte, aus denen dann das Französische, Spanische, Portugiesische, Italienische, Rumänische hervorgegangen sind, eingesetzt hat, ist nicht festzustellen. Jedenfalls erkannte man um das 9. Jahrhundert, als die Kluft zwischen Schrift- und Umgangssprache zu groß geworden war, daß die heimischen Dialekte mehr als nur schlechtes Latein waren. Die Volkssprache wurde nun auch in der Kirche anerkannt (Konzil von Tours 813).

Französisch. Die Geschichte der französischen Sprache beginnt mit den sogenannten Straßburger Eiden (842). Erst ab dem 11. Jahrhundert beginnt dann die eigentliche französische Literatur, die höfische Troubadourdichtung, verfaßt im Provenzalischen, das sich durch eine bessere Bewahrung des vulgärlateinischen Vokalsystems und Sprachgutes als das Nordfranzösische auszeichnet. Allerdings wurde dann durch die politische Macht das Nordfranzösische, der Dialekt der "Île de France", für die französische Nationalsprache maßgebend. Die meisten französischen Wörter stammen vom Vulgärlateinischen ab, haben sich jedoch durch jahrhundertelangen Gebrauch verändert. Man nennt diese Begriffe "volkstümliche Wörter" oder "Erbwörter" (viele Wörter des täglichen Lebens, z. B. vulgärlat. cane = Hund > chien). In der Renaissance erfuhr das Französische durch die Humanisten eine Bereicherung um klassisch-lateinische, "gelehrte" Wörter, die zwar auch abgewandelt wurden, aber das ehemalige Aussehen besser bewahrten. Manchmal gibt es Doppelentlehnungen aus dem Lateinischen, einmal als Erbwort und dann auch als gelehrtes Wort (z. B. lat. causa > Erbwort: la chose = Ding, Sache, und – später entlehnt: la cause = Grund, Prozeß). Auch von Latinismen (v. a. bei der Wortbildung, z. B. -ation, -ible, -aire) wird das Französische geprägt. Ebenso erinnert die Orthographie, die im 12./13. Jahrhundert festgelegt wurde, noch mehr ans Lateinische, weil sie der Etymologie angeglichen wurde. Die tatsächliche Aussprache aber hat sich gewandelt (vgl. temps = Zeit – lat. tempus). Vom französischen Grundwortschatz haben heute noch etwa 18 Prozent den lateinischen Stamm genau bewahrt. Das Geschlecht der lateinischen Wörter wurde ebenfalls nicht verändert, abgesehen davon, daß schon im Vulgärlateinischen das Neutrum immer mehr vom Maskulinum verdrängt wurde und sich diese Tendenz im Französischen ganz durchsetzte (z. B. lat. "templum" n. > frz. "le temple").

Italienisch. Das Italienische ist die unmittelbare Fortsetzung des Lateinischen und dessen nächster Verwandter. Es führt allerdings nicht das klassische, sondern das Volkslatein weiter. Lateinisch und Italienisch wurden lange Zeit als Einheit empfunden; deshalb wurde auch die italienische Volkssprache recht lange nicht des Ranges der Schriftsprache für würdig erachtet. Das Bewußtsein ihrer Eigenständigkeit scheint erst um das Jahr 960 gegeben (Dekret Placito), als das Schriftlatein den einfachen Leuten nicht mehr unbedingt geläufig war.

Die Wegentwicklung der italienischen Volkssprache von der lateinischen Sprache vollzog sich sehr viel langsamer als bei den anderen romanischen Sprachen. Erst um 1300 entstand langsam eine eigenständige italienische Literatur (bei gleichzeitig paralleler lateinischer Literatur). Die religiöse Lyrik des 13. Jahrhunderts (Franz von Assissi) war aber schon in der Mundart geschrieben. Maßgebend für die italienische Literatursprache wurde dann der Dialekt der Gegend des reichen Florenz (durch die dortigen Dichter Petrarca, Boccaccio und vor allem Dante, der für die schrieb, die Latein nicht mehr verstanden). Das moderne Italienisch ist – natürlich – dem klassischen Latein noch recht ähnlich (20 Prozent genaue Übereinstimmungen).

Spanisch. Auch das Spanische kann die lateinische Herkunft nicht verleugnen. Es hat sich nicht so weit wie das Französische, jedoch weiter als das Italienische vom Lateinischen entfernt.

Vorbild für die spanische Schriftsprache war im 13. Jahrhundert die kastilische Mundart (Gegend von Toledo, Madrid), ein ehemals vulgärlateinischer Dialekt. Im Unterschied zum Italienischen und Französischen hat das Spanische viele Vokabeln nahezu "vornehmer" Art (z. B. cabeza = Kopf < lat. caput = Kopf, Haupt, im Gegensatz zu frz. tête und ital. testa < vulgärlat. testa, etwa = Kürbis), was vielleicht aus der geographischen Randlage und der Besiedlung durch vornehme Römer erklärbar ist.

Im heutigen Spanisch haben etwa 27 Prozent [der Wörter - Th. J. G.] den lateinischen Stamm unverändert bewahrt. Neben dem Lateinischen hat auch das Arabische die spanische Sprache beeinflußt. Ein gallo-romanischer Dialekt, das Katalanische, wird heute noch in Spanien gesprochen und geschrieben.

Portugiesisch. Ebenso wie das Spanische geht das Portugiesische hauptsächlich auf das Vulgärlatein zurück und ist eigentlich nur eine mundartliche Sonderform davon. Es weist mehr französische Lehnwörter auf; Unterschiede zum Spanischen liegen auch in der Flexion und vor allem in der recht komplizierten Phonetik. Portugiesisch ist wie das Spanische Weltsprache.

Rumänisch. Die Hauptursache dafür, daß im heutigen Rumänien noch eine aus dem Lateinischen entwickelte Sprache gesprochen wird, liegt darin, daß Kaiser Traian die neue Provinz Dacien mit römischen Kolonisten besiedelte.

Ab dem 7. Jahrhundert war der damalige lateinische Dialekt slawischen Einflüssen ausgesetzt, was sich im Vokabular, aber auch in den grammatischen Erscheinungen bemerkbar macht. Vom Lateinischen her geprägt sind Verbformen (die 4 lat. Klassen sind noch zu erkennen), Artikel, Pronomina und Präpositionen. Der Artikel wird hinter das Substantiv gestellt. Die Substantive lassen noch eine Einteilung in 3 Geschlechter erkennen.

Die eigentliche Geschichte der rumänischen Sprache begann erst (frühestes Dokument aber 1521) mit der wissenschaftlichen Erforschung der Sprache im 18. Jahrhundert und der Modernisierung ganz Rumäniens, wobei die erforderlichen neuen Begriffe aus dem Französischen bzw. Italienischen entlehnt wurden. Heute noch überwiegen im Grundwortschatz die lateinischen Erbwörter; ebenso stark durchsetzt mit Latinismen ist der moderne Sprachbereich.

Griechenland. Im übrigen wird im Epirus-Gebirge (Nordgriechenland) ein Dialekt gesprochen, der eine Mischung aus verschiedenen Sprachen darstellt, u. a. auch aus Legionärslatein.

Rätoromanisch. Die unter dem Namen Rätoromanisch zusammengefaßten Dialekte des europäischen Alpenraumes, die in Graubünden, dem Engadin, Teilen der Dolomiten Südtirols und im Friaul gesprochen werden, sind Reste eines ursprünglich zusammenhängenden romanischen Sprachgebiets.

Die einzelnen heutigen rätoromanischen oder auch ladinischen Sprachen sind untereinander wieder verschieden, erklärbar auch aus der Abgeschiedenheit der Täler. Diese Dialekte, ohne einheitliche Schriftsprache, verblieben als Erbgut der römischen Herrschaft und stellen die Sprachform dar, die das Volkslatein unter Einfluß des rätischen Volksstammes annahm. (z. B. bun di = Guten Tag, engadinisch)

[ Hinweis: Karte der romanischen Sprachen ]

Lateinischer Einfluß auf die angelsächsischen und germanischen Sprachen:

Englisch. Die englische Sprache ist vom Lateinischen stark beeinflußt. In der römischen Provinz Britannia setzte sich die lateinische Sprache allerdings nicht überall durch; auch die Angelsachsen haben nach ihrer Besetzung Süd- und Mittelenglands nur wenige lateinische Vokabeln für ihre Bevölkerung übernommen (vornehmlich aus dem Militär- und Baubereich). Mit der Christianisierung durch römische Mönche dringt das Kirchenlatein nach England. Bedeutend waren die Mönche Alkuin und Beda ("Historia ecclesiae Anglorum").

Die französischen Normannen (Invasion 1066) brachten ihren romanisch-lateinischen Wortschatz mit, und zwar das Anglofranzösisch, das Pariser Französisch, das Lateinische durch direkte Entlehnungen. Die durch diesen Prozeß entstandene germanisch-romanische Mischsprache wird durch den Einfluß der Renaissance nochmals lateinisch beeinflußt; dazu kommen noch lateinisch neugeprägte technische und wissenschaftliche Begriffe der Moderne. Je nach Art der Entlehnung gibt es heute noch im Englischen verschiedene Abkömmlinge desselben lateinischen Stammes (z. B. lat. regalis > engl. regal - real - royal).

Die englische Sprache ist also eine Mischsprache mit einem Wortmaterial von etwa je der Hälfte germanischen und romanischen bzw. lateinischen Ursprungs, wobei dem Alltagsleben die angelsächsische Sprache vorbehalten blieb. Das Wort angelsächsischer Herkunft ist dabei gefühlsbetonter, das lateinischer höflicher, was zu einem großen Ausdrucks- und Nuancenreichtum der englischen Sprache geführt hat. Aber nicht nur das Vokabular, sondern auch syntaktische Erscheinungen gründen auf dem Lateinischen. (So etwa das absolute Partizip: "This done we went home".)

Deutsch. Auch auf das Germanische hatte das Lateinische Einfluß, so im Bereich des Bauwesens (z. B. Fenster), des Handels und der Kochkunst; später auch im kirchlichen Bereich (lat. praedicare "rühmen" > predigen). Aber nicht nur das Vokabular, sondern auch die Ausdrucksweise wurde nach Karl dem Großen durch gelehrte Mönche geprägt, die lateinisches Bildungsgut "unters Volk brachten" (so etwa die Lehnübersetzung "barmherzig" für lat. misericors). Vielfach wurde der Gehalt des Germanischen latinisiert, vor allem im christlichen Bereich. Die meisten Entlehnungen aus dem Lateinischen erfuhr die deutsche Sprache in der Renaissance (damals übersetzten viele ihren Familiennamen ins Lateinische, z. B. Faber = Schmied). Auch auf den Satzbau nahm das Lateinische Einfluß, so auf die Unterordnung statt der Beiordnung und auf Schachtelsätze.

Aber nicht immer wurde die Bereicherung der deutschen Sprache durch lateinisch geprägte Fremdwörter unwidersprochen hingenommen (so im 18. Jahrhundert die deutschen Schriftsteller); im Bereich der Rechtswissenschaften wurde vieles wieder eingedeutscht (z. B. "Letzter Wille" für "Testament"). Die Umgangssprache allerdings neigt mehr zum Fremdwort.

Auch heute noch ist das Lateinische eine unerschöpfliche Quelle, wenn es gilt, Neubildungen zu gestalten.

Werbelatein und ähnliches:

Besonders kreativ ist Latein auf dem Gebiet der Werbesprache, denkt man nur an "Nivea" (< lat. nivis = Schnee); hier sollen auch der Wohlklang und die Einprägsamkeit des lateinischen Worts zum Kauf animieren (ähnlich auch "Solea", "Dentagard" u. ä.); auch lateinische Endungen machen die Wörter attraktiv (z. B. "Len-or", "Sun-il").

Jäger-›latein‹ oder Angler-›latein‹ haben natürlich mit der lateinischen Sprache nur mehr die Bezeichnung, sonst aber nichts gemeinsam.


http://www.thomas-golnik.de • 06.05.2001 • mail@thomas-golnik.de