Die Varus-Schlacht

(Velleius Paterculus: Historia Romana II 117–119)


Velleius Paterculus (* ca. 20 v. Chr.) verfaßte in den letzten Monaten des Jahres 29 ein kleines Geschichtswerk "Historia Romana", dem ein größeres folgen sollte. Ob es entstand, wissen wir nicht – zumindest ist nichts überliefert. Das kleine Werk gibt einen kurzen Überblick über die gesamte römische Geschichte bis zum Jahre 30. Es fand kaum Beachtung; 1515 entdeckte man die einzige Handschrift, die aber auch bald wieder verlorenging, weshalb der heutige Text auf zwei Kopien dieser Handschrift beruht.


Auszug aus: C. Velleius Paterculus: Historia Romana. Römische Geschichte. Lat./Dt. – Übers. und hg. von Marion Giebel. Stuttgart: Reclam, 1992.

117 (1) Kaum hatte Tiberius Caesar die letzte Hand angelegt, um den pannonischen und den dalmatischen Krieg endgültig zu beenden, da brachten – nur fünf Tage, nachdem er diese gewaltige Aufgabe vollendet hatte – Depeschen aus Germanien die Unglücksbotschaft, daß Varus getötet und drei Legionen niedergemetzelt seien, dazu ebenso viele Reitergeschwader und sechs Kohorten. Es war gerade, als ob uns das Schicksal dabei noch eine Gnade erwiesen hätte: daß nämlich unser Feldherr zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf einem anderen Kriegsschauplatz beschäftigt war ... Die Ursache der Katastrophe sowie die Person des Heerführers machen es erforderlich, daß ich hierbei kurz verweile. (2) Quintilius Varus stammte aus einer angesehenen, wenn auch nicht hochadligen Familie. Er war von milder Gemütsart, ruhigem Temperament, etwas unbeweglich an Körper und Geist, mehr an müßiges Lagerleben als an den Felddienst gewöhnt. Daß er wahrhaft kein Verächter des Geldes war, beweist seine Statthalterschaft in Syrien: Als armer Mann betrat er das reiche Syrien, und als reicher Mann verließ er das arme Syrien. (3) Als er Oberbefehlshaber des Heeres in Germanien wurde, bildete er sich ein, die Menschen dort hätten außer der Stimme und den Gliedern nichts Menschenähnliches an sich, und die man durch das Schwert nicht hatte zähmen können, die könne man durch das römische Recht lammfromm machen. (4) Mit diesem Vorsatz begab er sich ins Innere Germaniens, und als habe er es mit Männern zu tun, die die Annehmlichkeiten des Friedens genossen, brachte er die Zeit des Sommerfeldzugs damit zu, von seinem Richterstuhl aus Recht zu sprechen und Prozeßformalitäten abzuhandeln.

118 (1) Die Leute dort sind aber – wer es nicht erfahren hat, wird es kaum glauben – bei all ihrer Wildheit äußerst verschlagen, ein Volk von geborenen Lügnern. Sie erfanden einen Rechtsstreit nach dem andern; bald schleppte einer den anderen vor Gericht, bald bedankten sie sich dafür, daß das römische Recht ihren Händeln ein Ende mache, daß ihr ungeschlachtes Wesen durch diese neue und bisher unbekannte Einrichtung allmählich friedsam werde und, was sie nach ihrer Gewohnheit bisher durch Waffengewalt entschieden hätten, nun durch Recht und Gesetz beigelegt würde. Dadurch wiegten sie Quintilius Varus in höchster Sorglosigkeit, ja, er fühlte sich eher als Stadtprätor, der auf dem römischen Forum Recht spricht, denn als Oberbefehlshaber einer Armee im tiefsten Germanien. (2) Es gab damals einen jungen Mann aus vornehmem Geschlecht, der tüchtig im Kampf und rasch in seinem Denken war, ein beweglicherer Geist, als es die Barbaren gewöhnlich sind. Er hieß Arminius und war der Sohn des Sigimer, eines Fürsten jenes Volkes. In seiner Miene und in seinen Augen spiegelte sich sein feuriger Geist. Im letzten Feldzug hatte er beständig auf unserer Seite gekämpft und hatte mit dem römischen Bürgerrecht auch den Rang eines römischen Ritters erlangt. Nun machte er sich die Indolenz unseres Feldherrn für ein Verbrechen zunutze. Es war kein dummer Gedanke von ihm, daß niemand leichter zu fassen ist als ein Nichtsahnender, und daß das Unheil meistens dann beginnt, wenn man sich ganz sicher fühlt. (3) Erst weihte er nur wenige, dann mehrere in seinen Plan ein. Die Römer könnten vernichtet werden, das war seine Behauptung, mit der er auch überzeugte. Er ließ den Beschlüssen Taten folgen und legte den Zeitpunkt für den Hinterhalt fest. (4) Dies wurde dem Varus von Segestes hinterbracht, einem loyalen Mann jenes Volkes mit angesehenem Namen. Er forderte Varus auf, die Verschwörer in Ketten zu legen.[1] Aber das Schicksal war schon stärker als die Entschlußkraft des Varus und hatte die Klarheit seines Verstandes völlig verdunkelt. Denn so geht es ja: Wenn ein Gott das Glück eines Menschen vernichten will, dann trübt er meistens seinen Verstand und bewirkt damit – was das Beklagenswerteste daran ist, – daß dieses Unglück auch noch scheinbar verdientermaßen eintrifft und sich Schicksal in Schuld verwandelt. Varus wollte es also nicht glauben und beharrte darauf, die offensichtlichen Freundschaftsbezeugungen der Germanen gegen ihn als Anerkennung seiner Verdienste zu betrachten. Nach diesem ersten Warner blieb für einen zweiten keine Gelegenheit mehr.

119 (1) Den Ablauf dieser schrecklichen Katastrophe – die schwerste Niederlage der Römer gegen auswärtige Feinde seit der des Crassus gegen die Parther – werde ich, wie schon andere es getan haben [2], in meinem größeren Geschichtswerk ausführlich darzustellen versuchen, hier sei des Ereignisses nur allgemein mit Trauer gedacht. (2) Die tapferste Armee von allen, führend unter den römischen Truppen, was Disziplin, Tapferkeit und Kriegserfahrung angeht, wurde durch die Indolenz des Führers, die betrügerische List des Feindes und die Ungunst des Schicksals in einer Falle gefangen. Weder zum Kämpfen noch zum Ausbrechen bot sich ihnen, so sehnlich sie es auch wünschten, ungehindert Gelegenheit, ja, einige mußten sogar schwer dafür büßen, daß sie als Römer ihre Waffen und ihren Kampfgeist eingesetzt hatten. [3] Eingeschlossen in Wälder und Sümpfe, in einen feindlichen Hinterhalt, wurden sie Mann für Mann abgeschlachtet, und zwar von demselben Feind, den sie ihrerseits stets wie Vieh abgeschlachtet hatten – dessen Leben und Tod von ihrem Zorn oder ihrem Mitleid abhängig gewesen war. (3) Der Führer hatte mehr Mut zum Sterben als zum Kämpfen. Nach dem Beispiel seines Vaters und Großvaters durchbohrte Varus sich selbst mit dem Schwert. (4) Von den beiden Lagerpräfekten aber gab der eine, L. Eggius, ein heldenhaftes, der andere, Ceionius, ein erbärmliches Beispiel. Der letztere bot, nachdem der größte Teil des Heeres schon umgekommen war, die Übergabe an: Er wollte lieber hingerichtet werden als im Kampf sterben. Numonius Vala aber, ein Legat des Varus, sonst ein ruhiger und bewährter Mann, gab ein abschreckendes Beispiel: Er beraubte die Fußsoldaten ihres Schutzes durch die Reiterei, machte sich mit den Schwadronen auf die Flucht und suchte den Rhein zu erreichen. Jedoch das Schicksal rächte seine Schandtat: Er überlebte seine Kameraden nicht, von denen er desertiert war, sondern fand als Deserteur den Tod. (5) Den halbverkohlten Leichnam des Varus rissen die Feinde in ihrer Rohheit in Stücke. Sie trennten sein Haupt ab und sandten es zu Marbod. Dieser wieder schickte es zu Caesar Augustus, der ihm trotz allem die Ehre eines Familienbegräbnisses gewährte.


1 Die Lücke wird ergänzt nach Tacitus, ann. 1,55: vinciri conscios, sed praevalebant iam. [zurück]

2 Sie sind, wie z. B. die des Aufidius Bassus, alle verloren. Erhalten ist nur die Schilderung bei Dio Cassius 56,18 ff. und ein kürzerer Bericht bei Florus 2,30. Vgl. Cajus Vellejus Paterculus und die ältesten Nachrichten über die Varus-Schlacht, hrsg. von L. Wilser, Leipzig 1920. [zurück]

3 Vgl. 2,120,6. Von Folterungen und grausamen Todesarten der Gefangenen berichteten auch entkommene Soldaten später dem Germanicus, als dieser den Schauplatz der Varus-Schlacht besuchte und die Reste der Toten begraben ließ (vgl. Tacitus, ann. 1,61; Florus 2,30). [zurück]