Die römische Familie
Wiedergabe des Artikels "Familie" (S. 85 ff.) in:
Weeber, Karl-Wilhelm: Alltag im Alten Rom.
Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler, 1998.
Der Tod bedeutet die endgültige, "schmerzliche" Trennung von der Familie: "Jetzt, jetzt wird dich nicht mehr dein glückliches Haus empfangen, und nicht mehr werden die gute Gattin und die lieben Kinder dir entgegeneilen, Küsse zu erhaschen, und nicht mehr wirst du in blühenden Verhältnissen leben und den Deinen ein Schutz sein können." (Lukr. III 834 ff.). Dem glücklich-harmonischen Bild, das Lukrez hier von der römischen Familie zeichnet man sieht die einschlägigen idyllischen Szenen in amerikanischen TV-Familien-Serien geradezu vor sich , kontrastiert das düstere Bild total, das Seneca von der Beziehung zwischen Vätern und Söhnen entwirft: "Am niedrigsten stand Kindesliebe, nachdem wir afters Säcke als Kreuze gesehen haben" (clem. I 23, 1): Vatermörder wurden in Säcke eingenäht und ins Meer geworfen, aufrührerische Sklaven dagegen ans Kreuz geschlagen.
Zwischen den beiden Zitaten liegen knapp drei Generationen. Sollte innerhalb so kurzer Zeit "kurz" jedenfalls in den Kategorien einer traditionalistischen Gesellschaft wie der römischen ein derart gravierender Wertewandel Platz gegriffen haben? Liest man ältere Darstellungen, so liegt der Schluiß nahe, im Zuge des spätrepublikanischen "Sittenverfalls" habe auch die Familie als grundlegende soziale Einheit erheblichen Schaden genommen. Das "Nachlassen der väterlichen Gewalt", habe, so Carcopino in seinem erstmals 1333 veröffentlichten Buch, eine bedauernswerte Auflösung der festgefügten altrömischen Familien-Bande im Gefolge gehabt (Rom 119 ff.).
Den Tendenzen zur Idealisierung frührömischer Familien-Verhültnisse bei gleichzeitiger Schwarzweißmalerei in Sachen "Sittenverfall" ist die Forschung der letzten Jahre energisch entgegengetreten. Stärker sozialgeschichtlich orientierte Fragestellungen haben zur Zurückdrängung des juristischen Aspekts geführt, unter dem die Familie lange Zeit vorrangig betrachtet und behandelt worden ist (vgl. etwa den RE-Artikel familia).
Dabei ist die rechtliche Grundlage natürlich nicht zu vernachlässigen. Sie ist erst einmal bedeutsam für ein ganz anderes Verständnis von Familie bei den Römern: Zur familia gehörten alle im Haushalt lebenden Menschen und damit auch die Sklaven (Dig. L 16, 135). In manchen Fällen konnte eine römische Familie damit mehrere hundert Köpfe umfassen. Wie sich die sozialen Beziehungen innerhalb solch großer Familien-Verbände gestalteten, läßt sich aus den Quellen nicht rekonstruieren. Selbst das Neben- und Miteinander von Freien und Unfreien in überschaubaren Haushalten wirft in seiner Komplexität mehr Fragen auf, als die Überlieferung Antworten bietet. Man denke nur daran, daß gewissermaßen unter dem "Dach" der Ehe zwischen dem pater und der mater familias eine Reihe von Lebensgemeinschaften unfreier Familien-Angehöriger entstehen konnten und zu welchen Venverfungen und Beziehungsstörungen innerhalb des Sozialverbandes alltägliche Ereignisse wie Tod und Scheidung, Verkauf von Sklaven und ihre Freilassung führen mußten.
Im folgenden kann daher familia nicht als Wirtschaftseinheit die bezeichnenderweise häufig mit domus, "Haushalt", synonym verwendet wird verstanden werden. Wir beschränken uns statt dessen auf die Kern-Familie. Und die kam der modernen Vorstellung von der Größe einer Familie sehr nahe: Sie bestand aus Mann, Frau und Kindern. Dabei dürfte die übliche Kinderzahl zwischen einem und drei gelegen haben. Der Gesetzgeber begünstigte in der Kaiserzeit zwar Dreikinder-Familien (und größere!) durch Privilegien für beide Eltern (ius trium liberorum, "Dreikinderrecht"), doch führte diese auf Augustus zurückgehende staatliche Regulierung in den meisten Fällen nicht zu dem erwünschten "Reproduktionsverhalten" man praktizierte lieber Geburtenkontrolle durch Empfängnisverhütung und Abtreibung.
Die Kern-Familie blieb in der Regel unter sich. Groß-Familien, bei denen man mit erwachsenen Geschwistern oder mit (Groß-)Eltern unter einem Dach lebte, waren die Ausnahme (Val. Max. IV 4, 9; Plut. Crass. 1). Spätestens mit der Hochzeit wurde jedenfalls in der Oberschicht, über die allein zuverlässige Nachrichten zur Familie vorliegen ein eigener Hausstand gegründet. Natürlich gebot es die pietas (Pflichtgefühl), engen Verwandten wie Eltern, Geschwistern, Onkeln und Tanten in Notlagen zu helfen, sie ab und zu zu besuchen und bei Todesfällen als Familien-Verband (gens) in Erscheinung zu treten; aber ein enges tagtägliches Zusammenleben entsprach dem Wunsch der meisten Römer nicht. Auch die noch unverheirateten jungen Männer zogen etwa ab dem 18. Lebensjahr einen Junggesellen-Haushalt vor.
Aber nur mit der Zustimmung des Vaters! Denn der hatte kraft der allumfassenden väterlichen Gewalt (patria potestas) theoretisch bis an sein Lebensende in allen Fragen die letzte Entscheidung. Das galt auch in finanzieller Hinsicht: Ohne eine freiwillige Unterhaltszahlung seitens des Vaters in Form eines dem Sohn zur Verfügung gestellten Sondervermögens (peculium, Verkleinerungsform von pecunia, "Geld"; Dig. XV 1, 5, 8) sah es mit der ersehnten (relativen) Selbständigkeit schlecht aus.
Sicher war es leichter, an solche Unterhaltszahlungen zu kommen, wenn man als jugendliches Familien-Mitglied das tat, was von einem erwartet wurde: Den Eltern, insbesondere dem Vater, Ehrerbietung und Gehorsam entgegenzubringen (Cic. off. I 160). Doch selbst unter dem Druck der patria potestas, die auch ein fast unbeschränktes privates Strafrecht umfaßte, wuchsen nicht nur Muttersöhne heran, die "ihrem Vater in allen Dingen zu gehorchen, niemals schlecht von ihm zu sprechen, nichts, was ihn verletzen könnte, zu sagen und zu tun" (Epikt. Diss. II 10, 7) bereit waren; daher waren Generationenkonflikte auch in römischen Familien keine Seltenheit.
Wieviel Wärme und Geborgenheit vermittelte die römische Familie? Die Rahmenbedingungen legen es nahe, ein vergleichsweise distanziertes Verhältnis zwischen den Eheleuten einerseits und in der Eltern-Kind-Beziehung andererseits anzunehmen. Die Machtfülle der patria potestas konnte zu einer Atmosphäre der Einschüchterung und Distanz führen wenn sie in vollem Umfang ausgeschöpft wurde. Die vielzitierten Paradebeispiele für unerbittliche väterliche Strenge (Val. Max. V 8; Suet. Aug. 65) verdanken ihre Berühmtheit indes gerade ihrem Ausnahmecharakter. Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe glaubwürdiger Berichte, wie liebe- und verstäindnisvolle Väter sich um ihre Kinder bemüht haben; darunter Römer, zu deren Klischeebild solche Zuneigung gar nicht zu passen scheint: Der "Patriarch" Cato maior war so vernarrt in sein Söhnchen, daß ihn nur ganz wichtige Staatsgeschäfte daran hindern konnten, dabei zu sein, wenn die Frau den Säugling badete und wickelte" (Plut. Cato mai. 20, 4). Derselbe Cato lehnte übrigens auch die Prügelstrafe als Züchtigungsinstrument gegen Kinder und Frau kategorisch ab.
Wärme, Zuneigung und Normvorstellung ein ambivalentes LebewohlDer Puppe (pupus) Torquatinus, einem guten Jungen, der seinen Eltern stets gehorcht hat, im Alter von 8 Jahren, 9 Monaten und 13 Tagen gestorben, und dem Laetianus, auch er eine Puppe, auch er ein guter Junge, der seinen Eltern gehorchte, im Alter von 5 Jahren, 6 Monaten und 6 Tagen gestorben.
Grabinschrift ClL Vl 27556
Das Verhältnis der Ehepartner zueinander, das für das Klima in der Familie grundlegend war, beruhte auf erheblich anderen Voraussetzungen als heute: Die römische Ehe war grundsätzlich eine auf nüchternen Vernunftüberlegungen beruhende, oft von den Vätern ausgehandelte Verbindung. Gerade in den gesellschaftlich führenden Kreisen war die "romantische" Liebesheirat die Ausnahme. Zweck einer Heirat war es vielmehr, legitime Nachkommen hervorzubringen, um auf diese Weise zum Fortbestand der gens beizutragen (Gell. IV 3, 2). Scheiterte das an der (vermuteten) Unfruchtbarkeit der Frau, so war das nach altrömischer Auffassung ein gesellschaftlich akzeptierter Scheidungsgrund (Gell. XVII 21, 44; Dig. XXIV 1, 60, 1; CIL VI 1527, Z. II 31 ff.).
Eine emotionale Basis mußten sich die Eheleute also erst im tagtäglichen Zusammenleben erarbeiten. Zu einer intensiveren erotisch-sexuellen Beziehung führte das häufig nicht; viele römische Männer glichen dieses Manko durch Konkubinate und regelmäßige Bordell-Besuche aus - und in der Kaiserzeit setzte sich auch manche Frau über das Norm-Ideal der univira (einer Frau, die nur einen einzigen Mann im Leben hat) nicht nur durch Wiederheirat, sondern auch durch außereheliche Liebesverhältnisse hinweg.
Angestrebt wurde eine partnerschaftliche Beziehung, in der die Eheleute aber kein erweiterter "Familien-Rat"! in einem consortium omnis vitae ("Gemeinschaft in allen Lebensbereichen"; Dig. XXIII 2, 1) über alle wichtigen Dinge zusammen berieten und der Mann am Ende die Entscheidung traf (Plut. Mor. 139 D) eine "Partnerschaft" mit deutlichem Ungleichgewicht, die nur auf der Grundlage gegenseitiger Achtung funktionieren konnte. Hilfreich für die von der Frau geforderte Unterordnung waren häufig ihr geringeres Alter und die auf ihre·Rolle abgestimmte Sozialisation. Als "Erfolgsgeheimnis" ehelicher Harmonie rühmt Plinius, daß seine bedeutend jüngere Frau "nicht mein Alter und meinen Körper liebt das alles altert und vergeht sondern meinen Ruhm", und er macht der Tante, unter deren Fittiche sie aufgewachsen war, das Kompliment, sie "durch deine Unterweisungen auf den richtigen Weg gebracht" zu haben (ep. IV 13, 5).
Goldener Ehe-Rat: Triumph des PragmatismusWenn wir ohne Frauen auskommen könnten. ihr Römer, gingen wir alle diesem Ärger aus dem Wege. Aber da es die Natur nun einmal so eingerichtet hat, daß man mit ihnen keineswegs harmonisch, ohne sie aber überhaupt nicht leben kann, müssen wir mehr an unser dauerhaftes Wohl als an unser kurzes Vergnügen denken.
Aus einer Rede des Censors Metellus Numidicus 102 v. Chr., Gellius I 6, 2
Vor allzu großer Tyrannei des pater familias war die Frau dadurch geschützt, daß die meisten Ehen sine manu abgeschlossen wurden. Die Frau blieb damit rechtlich in ihrer eigenen Familie, unterstand also nur einer patria potestas sozusagen aus der Ferne. Auch wirtschaftlich war die Mehrzahl der Oberschicht-Frauen relativ unabhängig: Scheiterte die Ehe, so nahmen sie die Mitgift (dos) in ihre Familie zurück. Da Töchter erbrechtlich mit Söhnen gleichgestellt waren, verfügten viele Frauen nach dem Tode ihres Vaters außerdem über nicht unbeträchtliches Vermögen.
In der Realität des Alltags wird man sich freilich die Verhältnisse nicht immer so rosig-partnerschaftlich vorstellen dürfen. Mancher, der sich bitter über den Verlust der politischen Freiheit unter dem Prinzipat beklage, habe in seiner Familie längst schon jede Freiheit unterdrückt, kritisiert Seneca (ira III 35, 1). Und beileibe nicht jeder Mann respektierte die Mutter seiner Kinder und ihre Rechtsstellung so wie der Alte Cato: Augustins Vater schlug seine Frau regelmäßig, und das war im afrikanischen Thagaste und wohl auch anderswo nichts Außergewöhnliches (conf. IX 9).
Die Aufgabenteilung war zumindest theoretisch klar: der pater familias vertrat die Familie nach außen, die mater familias kümrnerte sich um die Hausarbeit, indem sie das Personal einteilte und beaufsichtigte. Die Erziehung der Kinder wurde keineswegs nur als Frauensache angesehen, wenngleich sie stärker in die Zuständigkeit der Mütter fiel. In der Erfüllung dieser Mutterpflichten aufiugehen, fiel einer nicht geringen Zahl von Frauen offenbar zunehmend schwerer. Indiz dafür ist die von vielen Moralisten wortreich beklagte "Unsitte", die Säuglinge nicht mehr selbst zu stillen, sondern das "irgend so einer griechischen Sklavin zu überlassen" (Tac. dial. 29, 1;Varro r. r. II 10, 8). Ob das als Symptom für eine gewisse Kälte in vielen Familie gewertet werden kann, ist Interpretationssache.
Eine heile Welt voll Geborgenheit, das lassen die z. T. sehr widersprüchlichen Quellen erkennen, war die römische Familie gewöhnlich nicht. Im Normalfall stand sie aber sicher nicht unter so entwürdigender Dominanz des pater familias, wie das ältere Auffassungen suggerieren, die zu wenig zwischen dem ideologischen Normbild und der Lebenswirklichkeit unterscheiden.
Die Familie als moralischer Rückhalt? - Eine schwer zu deutende Cicero-Stelle"Ich fühle mich so vollkommen vereinsamt, daß ich Ruhe nur bei meiner Frau, meinem Töchterchen und dem süßen Cicero [= meinem kleinen Sohn - Thomas J. Golnik] finde. Jene eigennützigen Scheinfreundschaften sind ja nur Blendwerk für die Öffentlichkeit, für mein Privatleben bringen sie mir keinen Gewinn (...)". Cicero wendet sich dann wieder direkt an den Adressaten des Briefes, seinen besten Freund Atticus: "Darum warte ich auf Dich, sehne mich nach Dir, ja rufe Dich geradezu herbei, denn vieles macht mir Angst und Sorge, wovon ich mich, wenn Du mich anhören könntest, wahscheinlich durch die Unterhaltung auf einem Spaziergang befreien würde."
Cicero, Atticus-Briefe I 18,1
Daß die Familie als Stütze gesellschaftlicher Stabilität seit der späten Republik erhebliche Risse bekommen hatte, ist nicht zu übersehen. Die Zahl der Scheidungen war hoch; aber auch die Widerstände, überhaupt eine Familie zu gründen, waren nicht gering. Zerstört wurden die Beziehungen innerhalb einer Familie aber auch wesentlich öfter als in der modernen Welt durch die Unerbittlichkeit des Todes: Die Kindersterblichkeit war extrem hoch, und bei der relativ niedrigen Lebensenvartung ließ der Tod der Mutter oder des Vaters viel mehr Kinder und Jugendliche als Waisen zurück all das waren erhebliche Risiken für die emotionale Sicherheit aller Familien-Mitglieder.
Die Komplexität der Quellenlage erlaubt es nicht, ein allgemeingültiges Fazit zu ziehen: Die Individualität jeder Familie sollte nicht unterschätzt werden. Immerhin kann man eines feststellen: Die vielbeschworene "Krise der Familie" ist nicht erst ein Phänomen der Industriegesellschaften des ausgehenden 20. Jh., es hat sie im Gefolge der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche des 1. Jh. v. Chr. schon im Alten Rom gegeben. Krise ist immer zugleich auch ein Verlust an Selbstverständlichkeit. Das stellte an die einzelne römische Familie den Anspruch den innerhalb der vorgezeichneten Traditionsbahnen etwas größer gewordenen Spielraum individuell auszufüllen Ablehnung der Familie und faktisches Scheitern des Familien-Gedankens inbegriffen.
Quellen: Plaut. Mil. glor. 678 ff.; Lukr. III 894 ff.; Cic. Att. I 18, 1; Cael. 42 f.; off. I 54; Vitr. VI 5, 1 f.; Colum. r. r. 12 pr.; Val. Max. V 7 ff.; Sen. clem. I 23; Plin. ep. IV 19; VI 26; VIII 11; Tac. dial. 28 f.; Ann. III 33 f.; App. b. c. IV 11 ff.; Plut. Cato mai. 20; Mor. I ff. (de liberis educandis); 138 ff. (coniugalia praecepta); Gell. pr. 23; I 6; IV 3, 2; Augustin. conf. IX 9; Stob. IV 22, 24; Dig. XXIII 2 ff.; L 16, 195; CIL VI 1527; 31670 (laudatio "Turiae"); 27556; Quellen-Sammlungen: J. F. Gardner / Th. Wiedemann, The Roman household, London / New York 1991 (in engl. Übers.); K. Gaiser (Hg.), Für und wider die Ehe. Antike Stimmen zu einer offenen Frage, München 1974 (in dt. Übers.).
Literatur: J. E. Grubbs, Law and Family in Late Antiquity, Oxford 1995; M. Bettini, Familie und Verwandtschaft im antiken Rom, Frankfurt / New York 1992; B. M. Rawson, Marriage, divorce and children in ancient Rome, Oxford 1991; S. Teggiari, Roman marriage, Oxford 1991; S. Dixon, The Roman mother, London/Sydney 1988, 13 ff.; Gansey/Saller, Röm. Kaiserreich 180 ff.; B. Rawson (Hg.), The family in ancient Rome. New Perspectives, London 1986; J. P. Hallert, Fathers and daughters in Roman society, Princeton 1984.
http://www.thomas-golnik.de 06.05.2001 mail@thomas-golnik.de