Vergil: Aeneis

IV. Buch, Verse 223–392
Übersetzt von Johannes Götte


Nach seiner Flucht aus dem brennenden Troja befahlen die Götter dem Helden Aeneas, nach Latium in Italien zu segeln und dort ein neues Reich zu begründen. Auf dem Weg dorthin wird die kleine Flotte des Aeneas jedoch von einem gewaltigen Sturm abgetrieben und kann sich mit Mühe an die nordafrikanische Küste retten. Die Trojaner werden dort von der Königin Dido herzlich empfangen. Dido, die wenig zuvor selbst vor den Mordplänen ihres Bruders aus Phönizien fliehen mußte und nun eben dort an der afrikanischen Küste für sich und ihre Untertanen eine neue Stadt, Karthago, errichtet, verliebt sich in Aeneas; beide finden zueinander und Aeneas widmet sich nun – an der Seite Didos – dem Aufbau Karthagos. Da dies den göttlichen Plan gefährdet, ruft Jupiter, der oberste Gott, seinen Enkel, den Gott Merkur, zu sich, und befiehlt ihm, den Aeneas an seinen eigentlichen Auftrag zu erinnern...


NB. Im Text begegnen (v. a. aus Gründen der Abwechslung)  für manche Namen verschiedene Ausdrücke, und zwar:


"Auf, mein Sohn, ruf Westwind herbei und gleite auf Schwingen,
sprich zum Dardanerfürsten, der jetzt im Tyrerkarthago
säumt und nicht mehr denkt an schicksalverheißene Städte.
Ihn sprich an, bring ihm mein Wort durch eilende Lüfte.
Nicht als solchen Weichling versprach seine herrliche Mutter
uns den Mann und entriß ihn zweimal den Waffen der Griechen.
Sollte doch er Italien einst, ein herrschaftsträchtig,
kriegerisch Land beherrschen und weitergeben des Teukros
adelig Blut und seinem Gesetz unterwerfen den Erdkreis.
Wenn ihn gar nicht entflammt der Glanz so herrlichen Daseins,
wenn er nicht selbst für den eigenen Ruhm die Mühsal bewältigt,
neidet als Vater er dann dem Askanius römische Burgen?
Was entwirft und erhofft er sich hier im feindlichen Volke,
denkt an Ausonias Nachwuchs nicht mehr und Latiums Fluren?
Segeln soll er! Ich will's. Dies sei von uns ihm gemeldet."

Also sprach er. Merkur aber fügte sofort sich des großen
Vaters Befehl: er band sich zunächst an die Füße die goldnen
Schuhe, die hoch auf Flügeln dahin über Meer oder Land ihn
tragen im reißenden Wehen der Luft; dann nimmt er die Rute,
bleiche Seelen ruft er mit ihr empor aus dem Orkus,
andere schickt er mit ihr hinab in des Tartarus Grauen,
schenkt und nimmt den Schlaf, entsiegelt vom Tode die Augen.
Ihr vertrauend lenkt er die Winde und schwimmt durch trübe
Wolken. Schon erblickt er im Flug den Grat und die steilen
Flanken des felsigen Atlas, der ragt als Stütze des Himmels,
Atlas, dessen stets von düsteren Wolken umwalltes
fichtentragendes Haupt von Wind und Regen gepeitscht wird,
Schnee hüllt dicht die Schultern ihm ein; vom Kinne des Alten
stürzen sich Ströme, es starrt von Eis das Dickicht des Bartes.
Hier erst machte der lichte Kyllenier ruhigen Fittichs
Halt, von hier nach vorn mit ganzem Leib zu den Wogen
warf er sich hin wie ein Vogel, der rings am Gestade und rings um
fischewimmelnde Riffs ganz tief hingleitet am Meere.
Ebenso flog zwischen Himmel und Land zum sandigen Strande
Libyens fort der kyllenische Sproß und schnitt durch die Winde,
als vom Ahnen er kam, der einst seine Mutter erzeugte.

Eben berührte der Gott geflügelten Fußes die Vorstadt,
als er Aeneas beim Bau der Burgen und neuen Gebäude
dort erblickte; der trug ein Schwert, von gelblichem Jaspis
blitzend bestirnt, es glühte von tyrischem Purpur der Mantel,
der von der Schulter ihm hing, dies Prachtstück hatte die reiche
Dido gemacht, mit Goldfäden fein durchwirkt das Gewebe.

Gleich nun fuhr er ihn an: "Du legst jetzt des hohen Karthago
Fundament und baust, du Knecht eines Weibes, die schöne
Stadt, vergaßest des eigenen Reichs und der eigenen Herrschaft.
Siehe, vom lichten Olymp entsendet zu dir mich der Herrscher
selbst der Götter, der Himmel und Erde waltend beweget,
er läßt diesen Befehl durch eilende Lüfte dir bringen:
Was bezweckst und erhoffst du müßig in Libyens Landen?
Wenn dich gar nicht rührt der Glanz so herrlicher Dinge,
wenn du nicht selbst für eigenen Ruhm die Mühsal bewältigst,
denk an Askanius doch, den wachsenden, denk an des Erben
Julus Hoffnung; Italiens Reich und römisches Land wird
ihm doch geschuldet." Als so der Kyllenier mahnend gesprochen,
ließ er, mitten im Wort, zurück der Sterblichen Blicke,
fern in flüchtige Luft entschwand er völlig den Augen.

Aber Aeneas indes stand stumm, beim Anblick von Sinnen,
steil vor Entsetzen sträubt sich das Haar, im Schlund würgt die Stimme.
Gleich entbrennt er, zu fliehn, die trauten Lande zu lassen,
niedergedonnert von solchem Befehl und Mahnruf der Götter.
Was soll er tun, wie wagen, der lieberasenden Fürstin
jetzt im Worte zu nahn? Wie soll überhaupt er beginnen?
Und sein Denken zerteilt er, das schnelle, bald hierhin, bald dorthin,
reißt es kreuz und quer und hetzt es durch alles und jedes.

Dieser Entschluß erschien als bester zuletzt dem Bedrängten:
Mnestheus ruft und Sergestus er her und den starken Serestus,
heimlich die Flotte zu rüsten, die Freunde am Ufer zu sammeln.
Waffen zur Hand zu haben, den Grund für diese Verändrung
doch zu verbergen; er werde, solange die treffliche Dido
noch nichts ahne und nimmer den Bruch solcher Liebe erwarte,
Zugang suchen und Zeit zu freundlich-schonender Rede
und für alles die schicklichste Art. In Eile gehorchen
alle freudig seinem Befehl und vollbringen den Auftrag.

Aber die Königin spürte – wer könnte die Liebende täuschen? –
längst die List und vernahm als erste den kommenden Wandel,
war ja schon immer voll Angst. Der Lieberasenden meldet
wieder die ruchlose Fama, man rüste die Flotte zur Abfahrt.
Sinnlos tobt sie und rast voll Zorn überall durch die Stadt; so
rast die Mänade, vom Anblick erregt der Weihegefäße
wenn, nach dreier Jahre Verlauf, die Orgien wieder
stacheln mit Bakchusruf und nachts laut ruft der Kithaeron.

Endlich stellt sie von selbst den Aeneas, spricht zu ihm also:
"Auch noch verbergen zu können erhofftest du, Treuloser, solchen
Frevel und ganz in der Stille aus meinem Lande zu weichen?
Hält meine Liebe dich nicht, die Hand nicht, einst mir gegeben?
Hält nicht Didos Tod dich zurück, der grausam bevorsteht?
Selbst unterm Wintergestirn treibst du zur Fahrt deine Flotte,
eilst dich, mitten im Nordsturm hin über Meere zu segeln,
Grausamer? Wenn du nicht fremdes Gefild und nimmer gekannte
Heimstatt suchtest, wenn uralt immer noch ragte dein Troja,
führest nach Troja du wohl zu Schiff durch wogende Meerflut?
Fliehst du denn mich? O, sieh diese Tränen, denk deiner Rechten,
denn nichts anderes hab ich Arme mir selbst noch gelassen,
denk des gemeinsamen Bundes, des Anfangs unsrer Vermählung,
macht ich nur irgend um dich mich verdient, ward irgend nur Liebes
dir von mir, so erbarm dich doch des gefährdeten Hauses,
leg doch, bitt ich, wenn Bitten noch Sinn hat, ab diesen Starrsinn.
Deinetwegen ergrimmt sind Libyens Völker, ergrimmt die
Numiderfürsten, erbittert die Tyrier, wieder um deinet-
willen zerstört die Scham, mein früherer Ruf, der allein mich
himmelan hob; wem läßt du zurück mich zum Tode, du Gastfreund,
einzig diese Bezeichnung blieb vom Gemahl ja noch übrig?
Warte ich gar, bis mein Bruder Pygmalion hier meine Festung
einreißt oder gefangen mich nimmt der Gaetuler Jarbas?
Hätte ich wenigstens doch einen Sohn von dir noch empfangen
vor deiner Flucht und spielte mir hier im Palaste ein lieber,
kleiner Aeneas, der immerhin mir doch dein Antlitz bewahrte,
ach, dann käme ich nicht so betrogen mir vor und verlassen."

Aber Aeneas, gemahnt von Juppiter, stand dort starren
Blickes und hielt gewaltsam den Gram im Herzen verborgen.
Endlich erwidert er kurz: "Niemals will ich all die Verdienste,
die du, Fürstin, mir aufzählen kannst, dir irgend bestreiten,
niemals soll mich's verdrießen, Elissas zu denken, solang ich
meiner bewußt bin, solange noch Geist diese Glieder durchwaltet.
Kurz nun erklär ich mein Tun: nicht wähnt' ich, verstohlen die Flucht hier
dir zu verbergen, – so darfst du nicht denken, – noch habe je ich
Anspruch auf Ehe gemacht oder kam, dies Bündnis zu schließen.
Ließe das Schicksal mich nach meinem Willen mein Leben
führen und ganz aus eigener Kraft meine Anliegen ordnen,
hielte ich Troja zuerst und der Meinen trautes Vermächtnis
fromm in Ehren, es ragten empor des Priamus Häuser,
hätte ich Pergamus selbst wieder neu erbaut den Besiegten.
Jetzt aber hieß mich Apollo von Grynium, hieß das Orakel
Lykiens mich nach Italien ziehn, in Italien bleiben;
dies ist Liebe, dies Heimat; wenn dich die Burgen Karthagos,
Tochter Phoeniziens, fesseln, der Blick auf die libysche Stadt hier,
warum dann der Neid, daß Teukrer im Lande Ausoniens
siedeln? Auch uns ist erlaubt, im Ausland Reiche zu suchen.
Stets, wenn Nacht die Lande umhüllt mit tauendem Dunkel,
wenn die Sterne erglühn, dann mahnt meines Vaters Anchises
Antlitz zürnend und schreckt mich im Traum; an Askanius denk ich
und an das Unrecht wider sein liebes Haupt: ich betrüge
ihn doch um Hesperiens Reich und das Land der Verheißung.
Jetzt aber brachte sogar der Bote der Götter, entsandt von
Juppiter selbst – so wahr wir leben – durch eilige Lüfte
Botschaft; sah ich doch selbst handgreiflichen Glanzes den Gott
die Mauern betreten, vernahm mit diesen Ohren die Stimme.
Reize nun mich und dich nicht weiter mit all deinen Klagen:
Nicht von mir aus such' ich Italien."

So sprach er: doch sie schaut längst schon finster zur Seite,
hierhin wendend und dorthin die Augen, mustert von Kopf bis
Fuß ihn schweigenden Blicks, und so bricht los sie im Zorne:

"Nein, dich gebar keine Göttin, nicht Dardanus ist dein Ahnherr,
Treuloser, sondern dich zeugte der Kaukasus, starrend von hartem
Felsgestein: dir boten die Brust hyrkanische Tiger.
Denn was verhehl ich den Zorn oder warte auf schlimmere Kränkung?
Hat er bei meinem Weinen geseufzt, den Blick nur verändert,
zwang ihn zu Tränen mein Leid, zu Mitleid der Liebenden Elend?
Läßt sich dies überbieten? Doch nicht sieht Herrscherin Juno,
nicht der saturnische Vater gelassenen Blickes dies Unrecht.
Nirgend hat Treue noch Halt. Ich nahm den Gestrandeten, Armen,
bei mir auf und gab ihm – Törin! – Teil an der Herrschaft,
barg die verlorene Flotte und barg vom Tod die Gefährten.
Weh mir, besessen bin ich von Wut! Jetzt Seher Apollo,
jetzt ein lykisch Orakel, jetzt gar vom Juppiter selbst der
Bote der Götter bringt durch die Lüfte furchtbare Botschaft!
Freilich das macht Himmlischen Not, diese Sorge bewegt die
Ruhenden! Nein, ich halte dich nicht, widerlege dein Wort nicht:
Fort, nach Italien segle im Wind, such Reiche durch Wogen!
Ich aber hoffe, du wirst – wenn fromme Götter voll Macht sind –
reichlich büßen, von Klippen umdroht, wirst Dido beim Namen
oft noch rufen: in dunkler Glut dann nah ich, die Ferne,
und wenn eisiger Tod vom Leben trennte die Glieder,
bin allerorten als Schatten ich da; du, Frevler, wirst büßen.
Hören werde ich's, tief zu den Manen kommt diese Kunde."

Da bricht unvermittelt sie ab und flieht voller Gram nun
Luft und Licht, entzieht sich ganz den Augen der Menschen,
läßt ihn stehn, der ängstlich noch zaudert und vieles noch sagen
möchte; dienende Frauen empfangen sie, tragen die jäh in
Ohnmacht Gesunkne ins Marmorgemach und betten sie zärtlich.


Der Holzschnitt stammt aus der 1502 in Straßburg gedruckten Aeneis-Ausgabe.