Vergil – der Dichter des römischen Nationalepos

Auszug aus Ilse Becher: "Vergilius" in: Irmscher, Johannes (Hg.): Lexikon der Antike.
Digitale Bibliothek, Band 18: Lexikon der Antike (CD-ROM), 1999.
(ISBN 3-932544-23-2), S. 2457.


Vergil zwischen den Musen Kalliope und Melpomene. Mosaik aus Hadrumetum (N-Afrika), 3. Jh. n. Chr.Vergilius, P.Vergilius Maro, dt. Vergil (seit dem 5. Jh. erscheint auch die Form Virgilius), geb. 15.10. 70 Andes bei Mantua. gest. 21. 9. 19 v. Chr. Brundisium, bedeutendster römischer Epiker; stammte aus gesicherten Verhältnissen und lebte nach einer sorgfältigen Ausbildung in Rhetorik und Philosophie in Cremona, Mailand und Rom meist zurückgezogen in Neapel, anfangs in einem Kreis Gleichgesinnter bei dem epikureischen Philosophen Siro.

Das früheste Werk, die Gedichtsammlung »Catalepton« (Kleinigkeiten), 15 Gedichte vermischten Inhalts (Priapea und Epigramme), enthält nur weniges von Vergil selbst, das ihn in der Nachfolge Catulls zeigt. Literarischen Ruhm gewann Vergil mit der Sammlung von 10 Hirtengedichten, Bucolica oder Eclogae genannt, entstanden zwischen 42 und 39. Neben dem Preis von Zeitgenossen (Asinius Pollio, Cornelius Gallus) umschließen sie auch, symbolisch widergespiegelt, des Dichters eigenes Schicksal (die Landverteilung an die Veteranen traf auch Vergils väterliches Besitztum; durch Vermittlung von Freunden wurde Vergil in diesem Zusammenhang mit Oktavian, dem späteren Kaiser Augustus, bekannt, der ihn entschädigte; seit dieser Zeit verehrte Vergil Oktavian wie einen Gott). Die 4. Ekloge enthält die berühmte Prophezeiung von der Geburt eines göttlichen Kindes und dem Anbruch des Goldenen Zeitalters. Von den Christen wurde sie auf die Geburt Christi gedeutet, eine Anschauung, die zu der hohen Wertschätzung Vergils im christlichen Mittelalter wesentlich beitrug. Die Hirtengedichte sind nach dem Vorbild Theokrits und in Hexametern gestaltet. Mit ihnen bürgerte Vergil die bukolische Poesie in Rom ein. Sie wurde mit ihrer sehnsüchtig besungenen, verklärten Welt des Glücks und Friedens seit der Renaissance zum Vorbild aller europäischen Hirtendichtung (Petrarca, Tasso, Nürnberger Dichterschule, Barockdichtung).

Von 37 v. Chr. ab befand sich V. im Maecenaskreis, in den er auch den ihm befreundeten Horaz einführte. Die »Georgica« (Landbau), ein in Hexametern abgefaßtes Lehrgedicht in Nachfolge von Hesiod und Lukrez, sind von Maecenas angeregt und diesem gewidmet. Vergil preist darin die friedliche, mühevolle Arbeit des italienischen Bauern (Hauptthemen der 4 Bücher sind Ackerbau, Baumpflege mit Betonung von Ölbaum und Weinstock, Vieh- und Bienenzucht). Das Werk will weniger ein Handbuch der Landwirtschaft sein als durch seine Darstellung der Arbeitswelt eines gesunden, arbeitsamen Bauernstandes ein Leitbild für die durch die Bürgerkriege entwurzelte und zerrüttete Gesellschaft geben. Die zeitgeschichtlichen Bezüge gelten besonders Oktavian, der als Retter der Welt gepriesen wird. Die hohe künstlerische Qualität ließ gelegentlich das Werk mit seinen meisterhaften Naturschilderungen, seinem Lob Italiens und Preis des Frühlings als Krone von Vergils Schaffen erscheinen.

Nach der Vollendung der »Georgica« (30 v. Chr.) begann Vergil die Arbeit an der »Aeneis«. In ihr gestaltete Vergil das Schicksal des Aeneas von der Eroberung Trojas bis zum Sieg über den italischen Rutulerfürsten Turnus. Vergil stand mit seinem Epos in der Nachfolge Homers (Buch 1–6 entsprechen der Odyssee, Buch 7–12 der Ilias). Die Aeneassage war vorher von Naevius im »Bellum Punicum« und von Ennius in den »Annales« literarisch gestaltet worden. Für Vergil war durch die Wahl des Stoffes bereits der Preis des Kaisers Augustus eingeschlossen, da dieser infolge der Adoption durch Cäsar zum iulischen Geschlecht gehört, das seine Abstammung auf Venus, die Mutter des Aeneas, zurückführte. In zwei historischen Durchblicken (Abstieg des Aeneas in die Unterwelt mit der Heldenschau; Schildbeschreibung) wird das Reich des Augustus als die Erfüllung des vom Schicksal bestimmten Verlaufs der römischen Geschichte dargestellt. Das Epos, das nach Vergils Ansicht noch einer Überarbeitung bedurfte, ist sogleich nach dessen Tod gegen den ausdrücklichen Willen des Dichters veröffentlicht worden und wurde an Stelle der »Annales« des Ennius zum Nationalepos der Römer.

Ausgabe zum 2000. Todestag Vergils (Vatikanstadt 1981)Vergils Dichtungen sind Sprachkunstwerke höchsten Ranges, die sich durch Ausgewogenheit der Komposition, Symbolkraft der Aussagen und einen nie wieder erreichten Wohlklang der Sprache auszeichnen. Schon zu Lebzeiten berühmt, wurde Vergil sogleich Schulautor und in der gesamten Antike zum verbindlichen Vorbild für alle Dichtung. Von der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Werk zeugt der Kommentar des Servius. Als wesensverwandt vom Christentum empfunden, galt Vergil dem lateinischen Mittelalter als der Dichter schlechthin. Von der Frührenaissance ab, seit Dantes »Divina commedia«, hatte Vergil auf die europäische Literatur einen ungeheuren Einfluß. Während in den romanischen Ländern und in England die Bewunderung Vergils immer ungebrochen stark blieb, bevorzugte die deutsche Klassik der Originalität wegen Homer. Erst im 20. Jh. hat man sich auch in Deutschland erneut Vergil zugewandt. In Malerei, Oper und Drama wurde aus der »Aeneis« bes. der Dido-Stoff häufig gestaltet.

Die sog. »Appendix Vergiliana« (Vergil-Anhang) ist eine Sammlung kürzerer Dichtungen, zu der auch das »Catalepton« (Gedichte in feinem Stil) gehört. Das meiste davon läßt sich mit Sicherheit als nichtvergilisch ausscheiden. Das Gedicht »Aetna« stammt wohl aus der Nerozeit, die anderen Werke (»Moretum«, Kräutergericht; »Copa«, Die Wirtin; »Ciris«; »Dirae«, Flüche; »Lydia«; Maecenaselegien) stammen aus Vergils oder späterer Zeit und sind künstlerisch von unterschiedlichem Wert. Bei dem parodistischen Kleinepos »Culex« (Mücke) ist Vergils Verfasserschaft umstritten.

Wilfried Stroh liest aus dem 4. Buch der "Aeneis" in Latein


Abbildungsnachweise:

1. Vergil zwischen den Musen Kalliope (epische Dichtung) und Melpomene (tragische Dichtung). Mosaik aus Hadrumetum (N-Afrika), 3. Jh. n. Chr. • www.classics.uga.edu/latin/latin_home_main_frame.htm

2. Ausgabe zum 2000. Todestag Vergils (Vatikanstadt 1981) • http://www.tu-darmstadt.de/ze/bib/lhb/ausstellungen/briefmarken/SchriftBeschreibstoffe.htm