Homer – der Vater der europäischen Literatur

Auszug aus Ilse Becher: "Homeros" in: Irmscher, Johannes (Hg.): Lexikon der Antike.
Digitale Bibliothek, Band 18: Lexikon der Antike (CD-ROM), 1999.
(ISBN 3-932544-23-2), S. 2457.


Homer (idealisierendes Porträt)Homeros, lat. Homerus, dt. Homer, am Anfang der griechischen und damit der europäischen Literatur stehender Dichter, dessen Name mit der ältesten literarischen  Gattung der Griechen, dem Heldenepos – bes. mit Ilias und Odyssee – verbunden ist. Schon das Altertum wußte über Homers Person und Zeit nichts Sicheres. Man dachte sich ihn als blinden Greis. Von den Orten, die als seine Heimat zu gelten beanspruchten, scheinen die Ansprüche von Smyrna im ionischen Kleinasien und von der Insel Chios am meisten gerechtfertigt zu sein. Als Lebenszeit Homers darf man etwa das 8. Jh. v. Chr. annehmen.

Homer galt im Altertum als der Dichter, er war der große Lehrmeister und Vorbild der gesamten Antike. Die »homerische Frage« (Frage nach dem Dichter der Homerischen Epen und deren Entstehungsart) gab es bereits im Altertum. Peisistratos hatte im 6. Jh. v. Chr. eine Durchsicht des Homertextes vornehmen lassen. Bis zum 5. Jh. schrieb man Homer neben der Ilias und Odyssee noch viele epische Dichtungen zu. Später galt Homer als der Dichter von Ilias und Odyssee, bis im Hellenismus die »Chorizonten« (Trennenden) Homer die Odyssee absprachen. In der Neuzeit warf F. A. Wolf in seinen »Prolegomena ad Homerum« (1795) die Frage erneut auf.

Ilias (Beginn des 15. Buches), Handschrift vom Beginn des 15. Jh., Universitätsbibliothek Leiden (NL)Nach dem heutigen Stand der Forschung gilt Homer als der Dichter der Ilias. Er hat dafür, fußend auf epischer Tradition und nach einheitlischem Plan, ältere Lieder mit verwendet. Diese Lieder, Heldensagen und Kleinepen sind mündliche Vorstufen, sie stammen aus der Welt des 2. Jahrt., in der frühgriechische Stämme, von Königen geführt, in die Mittelmeerwelt vordrangen. Die Lieder wurden von wandernden Rhapsoden beim Mahl der Adelsgesellschaft vorgetragen. Ebenso umstritten wie die Frage, ob diese Rhapsoden teilweise schriftlich fixierte Texte besaßen, ist die Frage der Schriftlichkeit der Homerischen Epen. Verwendung der Schrift durch Homer gilt heute im Hinblick auf die künstlerische Komposition als wahrscheinlich.

Die Ilias, nach der griech. Stadt Ilios (= Troja) genannt, schildert in 24 Büchern einen Ausschnitt von 49 Tagen aus dem Ende des 10 Jahre währenden Kampfes der Griechen um Troja. Ihr Thema ist der Zorn des Achilleus. Dieser, von Agamemnon seiner Sklavin Brisëis beraubt, bleibt grollend dem Kampfe fern. Nachdem sein Freund Patroklos gefallen ist, greift Achilleus wieder in den Kampf ein, um Rache zu nehmen. Er erhält von seiner Mutter Thetis dafür die von Hephaistos geschmiedete Rüstung (Schildbeschreibung im 18. Buch) und tötet Hektor im Kampf. Mit den Leichenspielen zu Ehren des Patroklos endet das Epos. Die Ilias spiegelt keine einheitliche Zeitepoche wider. Die zahlreichen neben der Haupthandlung herlaufenden Episoden zeigen die oft von Göttern abstammenden Helden in gewaltigen Kämpfen. Auf beiden Seiten nehmen Götter am Kampf teil, die Götterszenen haben oft burlesken Charakter. Spätere kleine Zudichtungen sind erfolgt.

Die Odyssee ist wohl als ein jüngeres, nicht von Homer stammendes Werk anzusehen. Sie hat wahrscheinlich einen Dichter (Homerschüler?) und einen späteren Bearbeiter. In 24 Büchern besingt die Odyssee die 10 Jahre währenden Irrfahrten und die Heimkehr des Odysseus zu seiner Frau Penelope. Das Epos setzt kurz vor der Heimkehr bei dem Aufenthalt des Odysseus bei der Nymphe Kalypso ein und läßt nach einem Schiffbruch den Helden selbst in einer Rahmenerzählung vor den Phaiaken seine früheren Erlebnisse berichten. Parallel dazu stellt das Epos dar, wie Penelope, auf die Rückkehr des Gatten wartend, sich nur mit List der Freier zu erwehren vermag, ihr Sohn Telemachos auf Erkundung nach dem verschollenen Vater auszieht und später dem unerkannt Heimgekehrten beim Freiermord hilft. In der Odyssee sind viele Seefahrererzählungen und Märchenmotive miteinander verwoben.

Simon Vouet: Die Musen Urania und Kalliope. (ca. 1634) - Calliope, die Muse der epischen Dichtung, hält die "Odyssee".Die Vasenmalerei hat ebenso wie die Wandmalerei in breiter Variation zahlreiche Einzelszenen aus Ilias und Odyssee dargestellt; die Plastik schuf ein Idealporträt des blinden Dichters.

Ilias und Odyssee sind in Hexametern abgefaßt, ihre Sprache ist eine auf langer Tradition aufbauende Kunstsprache mit ionisch-aiolischen Elementen. Geprägte, immer wiederkehrende formelhafte Wendungen lassen auf die mündlichen, in den Epen aufgehobenen Vorstufen schließen. Die Kraft der Phantasie, Sprachgewalt, Retardierung des Handlungsablaufs zur Erzeugung neuer dramatischer Spannung, kunstvolle Einzelszenen, frische Natürlichkeit in der Darstellung des Lebens, Schönheit der von scharfer Beobachtung zeugenden Gleichnisse, kunstvolle Beschreibungen von Gegenständen, menschliche Anteilnahme und psychologisches Feingefühl sind die unerreichten Vorzüge der Homerischen Epen und ließen sie zu den unerreichbaren Vorbildern alles dichterischen Schaffens werden. Der meistgelesene Dichter seit 3000 Jahren wurde sehr früh und bis in die byzantinische Zeit hinein zum Schulautor. Als Ausgangspunkt, an dem sich jede Dichtung der Antike maß, zwang Homer alle Späteren, sich mit ihm auseinanderzusetzen, und gibt bis in die Gegenwart hinein Impulse für künstlerisches Schaffen.

Livius Andronicus übersetzte die Odyssee ins Lateinische, Vergil wollte mit seiner »Aeneis« die Homerischen Epen erreichen. Sein Epos hatte im lateinischen Sprachbereich durch das Mittelalter und in den romanischen Ländern bis in die Neuzeit vor Homer die größere Bedeutung, bis man im 18. Jh., von England beeinflußt (R. Wood), in Homer das Originalgenie neu zu würdigen begann. Homers Dichtung hat seit dieser Zeit besonders auf die Klassiker (Lessing, Herder, Goethe) stark gewirkt und wurde durch die Übersetzung von J. H. Voß (1751–1826) weiten Bevölkerungskreisen Deutschlands vertraut.

Stanley Lombardo aus der "Ilias" in Altgriechisch


Abbildungsnachweise:

1. Homer (idealisierendes Porträt) • www.liberliber.it/biblioteca/h/homerus/

2. "Ilias" (Beginn des 15. Buches), Handschrift vom Beginn des 15. Jh., Universitätsbibliothek Leiden (NL) • www.let.leidenuniv.nl/gltc/studie/homerus.htm

3. Simon Vouet: Die Musen Urania und Kalliope. (ca. 1634) - Kalliope, die Muse der epischen Dichtung, hält die "Odyssee". • Samuel H. Kress Collection (http://www.nga.gov/cgi-bin/pimage?45877+0+1+gg32)