Hyakunin-isshu — N° 77
Se wo hayami iwa ni sekaruru takigawa no


So wie der Sturzbach wegen seiner starken Strömung
von den Felsen gestaut und geteilt wird
und doch wieder zusammenfließt,

so werden auch wir wieder zusammenfinden,
auch wenn wir nun getrennt sind – da bin ich ganz sicher.

se wo hayami
iwa ni sekaruru
takigawa no

waretemo sue ni
awan to zo omou


Der Verfasser des Gedichtes, der 75. Tennô namens Sutoku (1119–1164), ist als tragische Figur in die Geschichte eingegangen. Er war offenbar von Kindesbeinen an ein sehr feinfühliger und kunstsinniger Mensch, der sich besonders an der Dichtkunst erfreut, Dichterwettkämpfe veranstaltet und die Zusammenstellung von Gedichtsammlungen in Auftrag gegeben haben soll.

Leider lebte er zu einer Zeit, als es in der Kaiserfamilie üblich war, durch verwinkelte Intrigen die persönliche Macht zu stärken... Sutokus Urgroßvater, der abgedankte Kaiser Shirakawa, wollte wieder auf die Regierung Einfluß ausüben; deshalb adoptierte er seinen Urenkel Sutoku, zwang dessen Vater Toba (den amtierenden Tennô) zum Rücktritt und setzte den 5jährigen Sutoku auf den Thron, als dessen Vormund er nun wieder regieren konnte. Es mag verständlich sein, daß Toba alles versuchte, um Sutoku zu stürzen und einen Tennô einzusetzen, der seiner Kontrolle unterstand. Als Sutoku 22 Jahre alt war, gebar eine Konkubine Tobas einen Sohn namens Konoe, und es gelang Toba, Sutoku zum Rücktritt zu zwingen und den Neugeborenen als Tennô zu etablieren: dieser wurde Konoe-Tennô und Sutoku-Tennô wurde zu Sutoku-In (Ex-Kaiser Sutoku). Als Konoe ca. zehn Jahre später starb, machte Toba wieder einen anderen jungen Sohn zum Tennô, Goshirakawa. Es sah so aus, als ob Sutoku nie mehr die Gelegenheit bekommen würde, Einfluß auf die Regierungsgeschäfte zu nehmen. Ein Jahr später versuchte er durch einen Militärputsch (den Hôgen-Konflikt von 1156), die Macht an sich zu reißen. Als dieser aber mißlang, wurde er gezwungen, nach Sanuki auf die Insel Shikoku ins Exil zu gehen. Dort soll er, ganz von Rachsucht überwältigt, dem Wahnsinn verfallen sein.

Die rechts abgebildete Spielkarte (oben der Text des Gedichtes für den Vorleser, darunter das Bild des Dichters) wurde von dem Holzschnittmeister David Bull nach einer Vorlage aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angefertigt.

Sprachliche Analyse des Gedichtes

Wort (Wortart) Entsprechung im modernen Japanisch

Erklärung


se (Nomen) se (no nagare) Stromschnelle
wo (Partikel) ga Im modernen Japanisch markiert die Partikel wo regelmäßig das direkte Objekt. In der klassischen Sprache kann sie zwar auch diesem Zweck dienen, aber für gewöhnlich bleiben Objekt (und Subjekt) im bungo gänzlich unmarkiert. Die häufigste Funktion der Partikel wo im klassischen Japanisch ist es, eine emotionale Ergriffenheit auszudrücken – besonders im Zusammenhang mit kausalen Angaben (s. nächstes Wort).
haya-mi (Adjektiv) hayai node Die Adjektive des bungo gliedern sich in zwei Gruppen: solche, deren Satzschlußform (Shûshikei) durch Anhängen der Endung ·shi an den Wortstamm gebildet wird (z. B. haya·shi – schnell; sog. ku-Adjektive), und solche, bei denen das auslautende shi der Shûshikei keine Endung ist, sondern bereits von vornherein zum Wortstamm gehört (z. B. sabishi – einsam; sog. shi-Adjektive).
Durch das Anfügen des Suffix mi an den Stamm eines Adjektivs wird eine kausale Beziehung zu dem Nomen hergestellt, das diesem Adjektiv vorangeht. Dieses Nomen ist in der Regel durch die Partikel wo besonders (emotional) betont. Die Fügung » [Nomen] wo [Adjektiv] mi « könnte man also z. B. mit »da ja [Nomen] gar so [Adjektiv] ist« wiedergeben.
iwa (Nomen) iwa Fels
ni (Partikel) ni Die Partikel ni dient in der klassischen Sprache zu verschiedenen Zwecken. Manche davon stimmen mit den Verwendungsarten von ni in der modernen Sprache überein, z. B. um – wie im vorliegenden Fall – das Agens (den Täter) eines passiven Ausdrucks anzugeben: »von«.
sek-ar-uru (4-Verb in passiver Rentaikei) sekitomerareru Im Bereich der Verben werden im klassischen Japanisch weitaus mehr Konjugationsklassen unterschieden als in der modernen Sprache. Die meisten dieser Klassen enthalten jedoch verhältnismäßig wenige Verben (wenn nicht gar nur ein einziges). Sehr viele Verben sind sog. Yon-dan-Verben (Abk.: 4-Verb; »vierstufige Verben«). In ihrer Satzschlußform (Shûshikei), also der Form, in der sie z. B. als Prädikat einen allgemeinen Präsens-Satz beschließen können, enden die Verben dieser Klasse auf ·u (z. B. sek·u – stauen).
Das Passiv der 4-Verben wird gebildet, indem man an ihren Stamm ar·u als Suffix anfügt. Bei diesem ar·u handelte es sich eigentlich um ein weiteres Verb – diesmal um eines aus der Klasse der sog. Shimo-ni-dan-Verben (Abk.: s2-Verb; »zweistufige Verben der unteren Reihen«). Die Shûshikei der Verben dieser Klasse endet zwar ebenfalls – wie die der 4-Verben – auf ·u (weswegen »[Subjekt] wird gestaut« » [Subjekt] sek·ar·u « heißen würde), im vorliegenden Fall jedoch bildet sek·ar·u das Prädikat eines Attributivsatzes, der das folgende Nomen (takigawa) näher erläutert. Werden Verben verwendet, um Nomina zu attribuieren, so stehen sie im modernen Japanisch in der Shûshikei, im bungo jedoch in der Anschlußform (Rentaikei). Diese endet bei den s2-Verben auf ·uru.
taki-gawa (Nomen) gekiryuu, kyuuryuu Sturzbach (Die Schriftzeichen stehen für Wasserfall und Fluß).
no (Partikel) no you ni Die Partikel no hat im bungo verschiedene Funktionen; eine davon ist es, eine Metapher zu konstruieren, »(so) wie...«.
ware-te-mo (s2-Verb in Renyôkei + te + mo) wakare wakare ni natte ite mo Bei war·u (sich trennen) handelt es sich um ein s2-Verb. Um sich mit anderen Verben (wie z. B. mit dem folgenden te) verbinden oder auch um z. B. bestimmte Partikeln anschließen zu können, nehmen Verben die Halbschlußform (Renyôkei) ein. Diese endet bei s2-Verben auf ·e (war·e). Die Silbe te (wie erwähnt, eigentlich selbst auch eine Verbform) stellt oft eine Verbindung zwischen dem vor ihr und dem nach ihr stehenden Wort her: »und«, »auch«. Die Partikel mo erzeugt einen »Links-(bzw. Oben-)Fokus«, also eine Betonung des vor ihr stehenden Ausdrucks (»sogar«); in Verbindung mit te erzeugt sie einen konzessiven Aspekt: »sogar auch (dann, wenn...)«, »auch wenn«, »selbst wenn«.
sue (Nomen) (shourai) Ende
ni (Partikel) (ni) Eine weitere Funktion von ni – die es auch im modernen Japanisch besitzt – ist die Angabe eines Zeitpunktes.
ah-amu (4-Verb + amu in Shûshikei) aou Das Verb ah·u (sich treffen) ist ein 4-Verb. Das Suffixverb am·u, das an den Stamm anderer Verben angeschlossen wird, drückt eine Vermutung für die Zukunft aus (ah·am·u – »sich wohl treffen«). Es steht hier in seiner Satzschlußform (Shûshikei), weil es das abschließende Prädikat des ganzen vorausgehenden Satzes darstellt, der mit dem folgenden to als Inhalt einer Rede oder eines Gedankens gekennzeichnet wird.
to (Partikel) to Wie im modernen Japanisch so dient die Partikel to auch im bungo als »Zitatspartikel«; sie macht also deutlich, daß das Vorausgehende als Inhalt einer Rede oder eines Gedankens zu verstehen ist.
zo (Partikel) kitto Die Partikel zo dient zur Bekräftigung einer Aussage: »gewiß«, »ganz sicher«.
omofu (4-Verb in Shûshikei) omou Das 4-Verb omof·u (denken) beschließt den Satz, wozu es natürlich in der Satzschlußform (Shûshikei) stehen muß.

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Quellennachweis der Abbildungen:
(1. Das große Bild ganz oben) http://f17.aaacafe.ne.jp/~hmikann/hyakunin/077sutoku.htm
(2. Der Holzschnitt) http://www.asahi-net.or.jp/~xs3d-bull/hyaku-nin-isshu/set8/print_8-1/j_display_print_8-1.html
Die deutsche Übertragung des Gedichtes stammt von mir.