Hyakunin-isshu — N° 15
Kimi ga tame haru no no ni idete wakana tsumu

Kôkô-Tennô


Für Dich, Geliebte,
gehe ich hinaus aufs Frühlingsfeld
und pflücke junge Kräuter;

auf meinen Ärmel herab
fällt wieder und wieder noch Schnee.

kimi ga tame
haru no no ni idete
wakana tsumu

wa ga koromode ni
yuki wa furitsutsu


Der Verfasser des Gedichtes, Tokiyasu Shinnô, der spätere Kôkô-Tennô, (830–887) soll ein gutmütiger und äußerst attraktiver junger Mann gewesen sein. Angeblich verachtete er allen Luxus und hat sich zum Beispiel sein Essen höchsteigenhändig zubereitet – selbst dann noch, als er Tennô geworden war.

Das berühmteste Prosa-Werk der japanischen Literatur, das Genji-monogatari (»Geschichte vom Prinzen Genji«), in dem in zauberhaften Bildern Szenen des höfischen Lebens der Heian-Zeit geschildert werden, hat ebenfalls eine Verbindung zu Shinnô. Die Verfasserin dieses Romans, Murasaki Shikibu, soll sich nämlich als Vorbild für die Gestalt ihres Titelhelden, des »strahlenden Prinzen Genji«, eben unseren Dichter ausgewählt haben.

Shinnô wurde im Alter von 54 Jahren der 58. Tennô und starb bereits vier Jahre später nach einer plötzlichen Krankheit.

Der rechts abgebildete Druck (oben der Text des Gedichtes für den Vorleser, darunter das Bild des Dichters) wurde von dem Holzschnittmeister David Bull nach einer Vorlage aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angefertigt.

Hyakunin-isshu N° 15

Sprachliche Analyse des Gedichtes

Wort (Wortart) Entsprechung im modernen Japanisch

Erklärung


kimi (Nomen) kimi, anata ursprünglich Anrede für (männliche) Respektspersonen (»Herr«, »Gebieter«), dann aber auch von beiden Geschlechtern für den (geliebten) Partner (»Du«)
ga (Partikel) no Die Partikel ga dient – anders als im modernen Japanisch – in der klassischen Sprache für gewöhnlich nicht zur Markierung des Subjektes (das bleibt oft unmarkiert), sondern – ganz ähnlich wie die im bungo ebenfalls existierende Partikel no – zur attributiven Zuordnung des vorangehenden zu dem folgenden Nomen. Diese Zuordnung ist (ebenfalls wie bei no) stets semantisch indifferent, d. h., es wird durch ga/no nur deutlich gemacht, daß das vorangehende Nomen das nachfolgende näher erläutert, aber welcher Art diese Erläuterung ist, muß aus dem Kontext erschlossen werden.
tame (Nomen) tame Grund, Anlaß, Zweck, für..., wegen...
haru (Nomen) haru Frühling
no (Partikel) no Wie oben erwähnt, kennt auch die klassische Sprache die Partikel no in der Funktion, das vorangehende Nomen attributiv dem folgenden zuzuordnen.
no (Nomen) no, nobe Feld
ni (Partikel) ni Die Partikel ni dient in der klassischen Sprache zu verschiedenen Zwecken. Manche davon stimmen mit den Verwendungsarten von ni in der modernen Sprache überein, z. B. um – wie im vorliegenden Fall – die Richtung einer Bewegung anzugeben.
ide-te (s2-Verb in Renyôkei + te) de-te Im Bereich der Verben werden im klassischen Japanisch weitaus mehr Konjugationsklassen unterschieden als in der modernen Sprache. Die meisten dieser Klassen enthalten jedoch verhältnismäßig wenige Verben (wenn nicht gar nur ein einziges). Der Großteil der Verben kann auf zwei Klassen aufgeteilt werden: (1) die meisten sind sog. Yon-dan-Verben (Abk.: 4-Verb; »vierstufige Verben«), (2) andere sind sog. Shimo-ni-dan-Verben (Abk.: s2-Verb; »zweistufige Verben der unteren Reihen«). In ihrer Satzschlußform (Shûshikei), also der Form, in der sie z. B. als Prädikat einen allgemeinen Präsens-Satz beschließen können, enden die Verben beider Klassen auf ·u. Um sich mit anderen Verben verbinden oder auch um z. B. bestimmte Partikeln anschließen zu können, nehmen die Verben die Halbschlußform (Renyôkei) ein. Diese endet bei 4-Verben auf ·i, bei s2-Verben auf ·e.
Das vorliegende Verb »hinausgehen« (Shûshikei: id·u) ist ein s2-Verb. Seine Renyôkei, lautet demnach id·e. Die Silbe te (eigentlich ebenfalls eine Verbform) kann sich mit der Renyôkei von Verben verbinden, um einen Anschluß zu weiteren Aussagen zu bilden (»... und...«). Diese Funktion entspricht in etwa der modernen te-Form. Allerdings ist im bungo diese Anschlußbildung auch durch die Verwendung der simplen Renyôkei (also ohne angehängtes te) möglich.
waka-na (Nomen) waka-na junge Kräuter, junges Gemüse (vgl. auch den Kasten weiter unten)
tsumu (4-Verb in Rentaikei) tsumu Das vorliegende Verb »pflücken« (Shûshikei: tsum·u) bildet den Abschluß eines Attributsatzes, der das in der folgenden Zeile stehende Nomen wa näher bestimmt (»ich, der ich... pflücke«). Werden Verben verwendet, um Nomina zu attribuieren, so stehen sie im modernen Japanisch in der Shûshikei, im bungo jedoch in der Anschlußform (Rentaikei). Diese endet bei den s2-Verben auf ·uru, bei den 4-Verben auf ·u (ist also bei diesen identisch mit der Shûshikei).
Da natürlich wakana das direkte Objekt zu tsumu bildet, kann man hier außerdem ersehen, daß auch direkte Objekte (wie schon das bereits oben erwähnte Subjekt) im bungo für gewöhnlich ohne jede Markierung bleiben.
wa (Nomen) watashi ich
ga (Partikel) no (siehe oben)
koromo-de (Nomen) sode Ärmel (des Kimonos)
ni (Partikel) ni (siehe oben)
yuki (Nomen) yuki Schnee
wa (Partikel) (wa), ga Die Partikel wa dient – wie in der modernen Sprache – entweder zur Erzeugung eines »Rechts-(bzw. Unten-)Fokusses«, d. h. zur Erzeugung einer Spannungshaltung à la »Die eigentliche Aussage kommt jetzt gleich...«, oder zur Hervorhebung des mit ihr markierten Nomens (oft, um es zu anderen in einen Kontrast zu setzen).
furi-tsutsu (4-Verb in Renyôkei + tsutsu) furi-tsuzuku Das Verb fur·u meint (im Zusammenhang mit Schnee, Regen usw.) »fallen«. Da es ein 4-Verb ist, lautet seine Renyôkei (die es einnehmen muß, um tsutsu anschließen zu können) fur·i.
Das Suffixadverb tsutsu, das – wie gesagt – stets an die Renyôkei angeschlossen werden muß, verleiht dem Prädikat den Aspekt vom Andauern der Handlung bzw. von deren beständiger Wiederholung.

Dem aufmerksamen Leser des Gedichtes mag aufgefallen sein, daß sich Shinnô nicht ganz genau an die für ein tanka übliche Form, die 5-7-5-7-7-Moren-Regel, gehalten hat, denn die zweite Zeile enthält acht Moren. Solche Norm-Abweichungen (hachô) sind jedoch im gewissen Rahmen zulässig (sog. Lizenz des Dichters). Hat eine Zeile, wie im vorliegenden Fall, eine überschüssige Silbe, spricht man von einem ji-amari (einem »überzähligen Zeichen«). So etwas kommt in den Gedichten des Hyakunin-isshu noch an verschiedenen anderen Stellen vor. Eine Silbe zuwenig, genannt ji-tarazu, ist ebenfalls zulässig, findet sich aber nicht im Hyakunin-isshu.

Kräuterpflücken im Schnee

Die wakana genannten Kräuter und Gemüse, die man schon früh im Jahr sammeln konnte, waren für die Menschen des Altertums eine wichtige Nahrungsquelle. Von diesen Gewächsen sind einige als haru no nana kusa (»Die sieben Frühlingskräuter«) bis heute berühmt. Es existiert nämlich der Glaube, daß man von Unheil und allen möglichen Krankheiten verschont bleibt, wenn man am ersten auf Neujahr folgenden Tag der Maus* diese sieben Kräuter sammelt und zubereitet. Es handelt sich im einzelnen um Rettich (suzushiro), Kohlrübe (suzuna), Taubnessel (hotokenoza), Vogelmiere (hakobera), Baumwollgras (gogyô), Hirtentäschel (nazuna) und Petersilie (seri) – jeweils natürlich in ihren japanischen Formen.

*) Nach dem alten aus China übernommenen Kalender erhalten die Tage ihren Namen immer rotierend nach den zwölf chinesischen Tierkreiszeichen (Tag der Maus, Tag des Stieres, Tag des Tigers usw.).

Die sieben Kräuter - nana kusa

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Quellennachweis der Abbildungen:
(1. Das große Bild ganz oben) http://f17.aaacafe.ne.jp/~hmikann/hyakunin/015koukou-tei.htm
(2. Der Holzschnitt) http://www.asahi-net.or.jp/~xs3d-bull/hyaku-nin-isshu/set2/print_2-1/display_print_2-1.html
(3. Die sieben Kräuter) http://www.jishukan.ed.jp/sat03/nanakusa/nanakusa.html
Die deutsche Übertragung des Gedichtes stammt von mir.